Buchkritik

Robert Menasse - Die Erweiterung

Stand
AUTOR/IN
Carsten Otte

Soll Albanien in die Europäische Union aufgenommen werden? In Robert Menasses bitterbösem und in seiner Länge doch kurzweiligem Roman „Die Erweiterung“ beschäftigen sich Politiker und Beamte, Blutsbrüder und Liebespaare mit dieser Frage, die zu einem seltsamen Helm mit gehörntem Ziegenkopf und auf ein Kreuzfahrtschiff führt, das mit versammelter EU-Prominenz über das Mittelmeer herumirrt.

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Im symbolischen Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein glänzender Helm mit Ziegenkopf aus vergoldeter Bronze

Im symbolischen Mittelpunkt dieser grotesken und gleichsam realitätsgesättigten Geschichte steht ein glänzender Helm, der mit allerlei Metallbändern und Buckelverzierungen beschlagen und auf dessen Scheitel ein Ziegenkopf aus vergoldeter Bronze montiert ist.

Dieses gehörnte Objekt, das heute in der Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien ausgestellt ist, wird dem albanischen Volkshelden Skanderbeg zugeschrieben, auch wenn jener Fürst, der im 15. Jahrhundert gegen die Osmanen kämpfte, den Helm vermutlich weder getragen noch besessen hat.

Skanderbeg: der Name eines albanischen Volkshelden und einer SS-Division

Die Hörner auf dem Helm, die dem zeitgenössischen Betrachter eventuell merkwürdig vorkommen können, werden jedenfalls als Symbol für die göttliche Macht des angeblichen Besitzers interpretiert. Der Nachruhm des Feldherrn aber hat nachweislich viele Spuren in der europäischen Geschichte hinterlassen, etwa in der Vivaldi-Oper „Skanderbeg“.

In London steht eine prunkvolle Büste des adligen Kriegers, in Tirana ist ihm mit einem großen Reiterdenkmal der Hauptplatz der Stadt gewidmet. Eher unbekannt ist, dass sich eine besonders blutrünstige SS-Division nach Skanderbeg benannt hat.

Auch dieses dunkle Kapitel der albanischen Heldenverehrung wird in Robert Menasses Roman „Die Erweiterung“ erwähnt, zeigt es doch, wie widersprüchlich die europäische Geschichte immer schon war. Die meisten Besucher des Kunsthistorischen Museums indes gehen an dem Helm achtlos vorbei; ein vom Brexit frustrierter BBC-Journalist im Ruhestand aber bleibt neugierig.

„Wer setzt sich eine Ziege auf den Kopf, dachte David Bryer und las die Legende. Er staunte nicht schlecht.“
(Aus Robert Menasse: Die Erweiterung)

Robert Menasse wirbelt mit historischen und fiktiven Anekdoten herum

Wer Menasses Roman folgt, wird ebenfalls nicht schlecht staunen, weil der Autor erneut mit historischen und fiktiven Anekdoten herumwirbelt. Anfangs mag man die eine oder andere Skurrilität noch durch eine Kurzrecherche im Internet überprüfen, aber schon bald hat der Text ein solches Eigenleben entwickelt, dass die Historie seltsam fiktiv und das Erfundene als Realität erscheint.

Dieses Verfahren lässt sich auch als literarische und ziemlich überzeugende Antwort auf die Debatten rund um Menasses Vorgängerbuch „Die Hauptstadt“ lesen.

Der neue Roman geht dabei nicht nur von vergangenen Verwerfungen auf dem Balkan und zitatpeniblen Streitereien in der westeuropäischen Bücherblase aus, sondern greift sehr konkret auch den aktuellen Beitrittswunsch Albaniens in die Europäische Union auf.

Der in Wien liegende Helm Skanderbegs gilt als albanisches Nationalheiligtum

Der amtierende Ministerpräsident des beitrittswilligen Landes – Ähnlichkeiten mit lebenden und regierenden Persönlichkeiten können nicht ausgeschlossen werden – sucht jedenfalls nach einer Möglichkeit, sowohl die eigene Wählerschaft als auch jene Länder zu beeindrucken, die der Aufnahme Albaniens in die EU eher skeptisch gegenüberstehen. Und was macht der geschichtsvergessene Populist? Er fordert die Herausgabe des in Österreich liegenden Nationalheiligtums!

„Wer sich den Helm Skanderbegs aufsetzt, was einer osteuropäisch-postmodernen Variante der Selbstkrönung Napoleons gleichkäme, würde dadurch zum Führer aller Albaner, der Herrscher über die größte Volksgruppe des Balkans, der ethnischen Albaner im Kosovo, in Nordmazedonien, in Montenegro und Serbien, aber auch der nicht zu unterschätzenden Zahl der Albaner in Griechenland, und der großen albanischen Gemeinden in Süditalien, Deutschland und der Türkei.“
(Aus Robert Menasse: Die Erweiterung)

Der albanische Regierungschef und der Oppositionsführer wollen beide den Helm haben

Die Idee für diesen Coup hatte Fate Vasa, der einst als Dichter reüssierte und nun auf politischem Terrain poetisiert – sprich: er fungiert als Berater im albanischen Kabinett, eine windige Figur mit nationalistischen Visionen. Dass der Helm in Wien als „Exempel für historische Legendenbildung und nicht als koloniale Beute“ ausgestellt ist, interessiert in Tirana weder den Regierungschef noch den Oppositionsführer, der ebenfalls überlegt, wie er an das gehörnte Ding herankommt.

„So begann die Jagd nach dem goldenen Helm.“
(Aus Robert Menasse: Die Erweiterung)

Und tatsächlich wird der Helm unter dubiosen Umständen gestohlen

Der Helm aus dem Museum wird tatsächlich unter dubiosen Umständen gestohlen. Die Polizei in Wien ist vollkommen ratlos, anders als der albanische Ministerpräsident, der weiterhin von seiner Quasikrönung träumt und einem versierten Schmied den Auftrag gibt, passend zum eigenen Dickschädel eine leicht vergrößerte Kopie des Helms anzufertigen. Dass auch die originalgetreue Fälschung bald verschwindet, ist der albanischen Mafia zu verdanken, hindert die Regierungsclique in Tirana wiederum nicht daran, den Skanderbeg-Plan weiter zu verfolgen.

Das aberwitzige Hin und Her mit den Helmen, das Spiel mit den gefälschten Projektionsflächen, die zur Realpolitik werden, ist eine bitterkomische und äußerst treffende Allegorie auf den Nationalismus in Europa. Die Handlung des Romans ist allerdings nicht einseitig angelegt, denn Menasse erzählt von den komplizierten Erweiterungsplänen der EU auch aus der Innensicht der Bürokratie, und zwar über eine Vielzahl von Personen und Paarkonstellationen.

Die einstigen Jugendfreunde Adam und Mateusz gehen nach dem Ende des Warschauer Paktes getrennte Wege

Dass der Autor nicht nur an der satirischen Eskalationsschraube zu drehen, sondern seine Romankonstruktion durchaus emotional zu erden weiß, zeigt sich an den polnischen Jugendfreunden Adam und Mateusz. Im Untergrundkampf der Solidarnosc waren die beiden noch vereint, haben sich Blutsbrüderschaft geschworen. Doch mit dem Ende des Warschauer Paktes gehen sie getrennte Wege.

Adam macht, kaum ist Polen der EU beigetreten, Karriere in der Europäischen Kommission. Er treibt die Erweiterungspläne der Gemeinschaft voran, während Mateusz zum polnischen Ministerpräsidenten aufsteigt und nicht nur die Aufnahme Albaniens torpediert, sondern auch die Freiheitsrechte im eigenen Land einschränkt. Seinen Zynismus hatte der Machtpolitiker dem Blutsbruder schon offenbart, als die Polen im Frühjahr 1989 noch für ihre Freiheitsrechte demonstrierten.

„Schau doch runter, sagte Mateusz. Was wollen sie? Pressefreiheit. Das brüllen sie gerade. Pressefreiheit. Und wenn sie sie haben, was kaufen sie? Pornohefte und Modezeitschriften. (…) Was erwarten sie von einer Demokratie? Ich sage dir, was sie erwarten: wachsenden Wohlstand. Aber es gibt keine Verfassung, kein Modell von Demokratie, wo verankert wäre, dass jede Wahl in der Folge zu mehr Wohlstand führen muss. (…) Und wenn sie Sicherheit wollen, dann gib ihnen einen Polizeistaat, mit Pornos und Modemagazinen, ich garantiere dir: Wenn sie sich sicher fühlen, pfeifen sie auf die Demokratie.“
(Aus Robert Menasse: Die Erweiterung)

Mateusz bekämpft die europäische Verwaltung, weil sie auf rechtsstaatliche Prinzipien pocht

Mit dieser Haltung also gelangte Mateusz in höchste Staatsämter, bekämpft seitdem die europäische Verwaltung, weil sie weiterhin auf rechtsstaatliche Prinzipien pocht und Europa nicht als vornehmlich christlichen Club begreift.

Es gehört zu den im Roman gut herausgearbeiteten Gegensätzen aktueller EU-Politik, dass die vielbeschworenen europäischen Werte in jenen Staaten, die der EU beitreten wollen, deutlich engagierter umgesetzt werden als in einigen Mitgliedsländern, die lediglich um ihre finanziellen Pfründe fürchten und sich zu autoritären Systemen zurückentwickeln.

Viele Liebesgeschichten, aber einige der Liebenden stürzen auf schlimme Weise ab

Jenseits der politischen Erzählebene überzeugt Menasses Roman mit einer Vielzahl von transnationalen Liebesgeschichten, als würde Europa ohnehin nur noch durch emotionale Verbindungslinien zusammengehalten werden: Der österreichische EU-Beamte Karl verguckt sich in die albanische Justizangestellte Baia, der Wiener Polizist Franz flirtet mit seiner Putzfrau Bessa, die aus Nord-Mazedonien kommt. Ismail, der melancholische Pressesprecher des albanischen Ministerpräsidenten, geht mit der nonbinären Radiojournalistin Ylbere auf Wanderschaft im Grenzgebiet zum Kosovo.

Nicht alle Sehnsüchte erfüllen sich, einige der Liebenden stürzen auf schlimme Weise ab. Die Gefühle der manchmal auch innerlich verstellten Figuren wirken durchweg nachvollziehbar, weil der allwissende Erzähler nie auf seine Charaktere herabschaut, sondern die vertrackten Stimmungslagen in eindrücklichen Szenen auflöst – etwa wenn Ismail und Ylbere eine kühle Nacht nach der anderen gemeinsam verbringen und bei aller Nähe doch so fern bleiben.

„Die Liebe kann manchmal wie eine wohlige Heizdecke sein, die zu klein ist. Sie wärmt, aber man friert doch, weil sie nicht alles abdeckt. Man zerrt die Decke hin und her, sie reicht nicht. Während der eine schwitzt, friert der Rücken des anderen. In der Früh küsst man sich verschlafen, aber springt dann schnell auf und in die Dusche, wäscht alles weg, die Kälte und den Schweiß des anderen.“
(Aus Robert Menasse: Die Erweiterung)

Trotz der Länge von 650 Seiten bietet der Roman ein kurzweiliges Lesevergnügen

Das Schlusskapitel dieses Romans, der trotz der beachtlichen Länge von 650 Seiten ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet, ist ein Totentanz auf hoher See. Die albanische Regierung hat die europäische Politprominenz zu einer Reise auf ein Kreuzfahrtschiff eingeladen, das gerade mit dem missverständlichen Namen SS Skanderbeg vom Stapel gelassen wurde. Die echtfalschen Helme des Heerführers sind auch an Bord, Passagiere berichten sogar von einer lebendigen Ziege.

Doch die Seereise, die zu einer neuen Einheit führen soll, entwickelt sich zu einem Desaster. Plötzlich werden medizinische Notfälle gemeldet, ein Virus greift um sich, die Menschen sterben, die Kühlräume sind schon bald überfüllt.

Das Schiff mit den moribunden Staatschefs darf nirgendwo mehr anlanden und irrt zeitweilig kapitänslos übers Meer. Dass die Rumpfbesatzung sich entschließt, in dieser Situation Flüchtlinge in Seenot aufzunehmen, erinnert zwar noch an die besagten europäischen Werte, könnte aber angesichts des gefährlichen Erregers auf dem Schiff auch das endgültige Todesurteil für die Geretteten sein. Ein düsteres Ende für ein ansonsten absurd-amüsantes Buch, das mit vielen Exkursen und Verweisen aufwartet, die hier nicht einmal andeutungsweise besprochen werden können.

Robert Menasse ist seinem Projekt, das vom vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Europa handelt, treu geblieben

Robert Menasse ist seinem literarischen und politischen Projekt, das vom vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Europa handelt, treu geblieben und hat mit „Die Erweiterung“ einen Roman veröffentlicht, der schon bald zu den Hauptwerken seines ohnehin von vielen Monumentalbüchern geprägten Oeuvres zählen wird. Möge der Schriftsteller nur dieses Mal weniger Reden mit gut gemeinten Zitaten halten – seine Literatur spricht für sich.   

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Carsten Otte