Buchkritik

Patrick Modiano – Unterwegs nach Chevreuse

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AUTOR/IN
Christoph Schröder

In seinem 30. Roman „Unterwegs nach Chevreuse“ erzählt der französische Literatur-Nobelpreisträger eine schwebende Geschichte, in der sich Kindheitserinnerungen mit einem Kriminalfall verbinden.

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Erinnerung lässt sich nicht zwangsläufig mit der Wirklichkeit in Deckung zu bringen

Es beginnt mit einem Wort, „Chevreuse“, das Jean Bosmans in einer Unterhaltung aufschnappt, irgendwann Mitte der 1960er-Jahre. Im Hintergrund läuft ein Chanson, „Douce Dame“, der in Bosmans Erinnerung ab sofort mit diesem Gespräch verknüpft ist.

50 Jahre später versucht derselbe Mann all die Fäden wieder zusammenzuführen; aus den versprengten Partikeln und Bildern in seinem Kopf ein Ganzes zusammenzusetzen. Gleichzeitig ist er sich aber bewusst, dass die Erinnerung ihre eigene Generalstabskarte entwirft, die nicht zwangsläufig mit der Wirklichkeit in Deckung zu bringen ist.

Modianos Erzähluniversum besteht aus Augenblicken, Details und Fragmenten - und doch wird eine Geschichte erzählt

Und schon hat Patrick Modiano seine Leser wieder einmal auf so elegante und virtuose Weise in sein Erzähluniversum hineingezogen. Ein Universum, das aus Augenblicken, Details und Fragmenten besteht und in dem doch eine Geschichte erzählt wird.

Am Anfang steht die scheinbar zufällige Begegnung des 20-jährigen Jean mit einer Frau, die Camille heißt, aber die alle nur den „Totenkopf“ nennen:

„Diesen Spitznamen, den sie schon trug, bevor er sie kennenlernte, hatte sie wegen ihrer Kaltblütigkeit bekommen und weil sie oft einsilbig war und verschlossen.“
(Aus Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse)

Jean Bosmans reflektiert Jahrzehnte später die auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Wendungen seines Lebens

Von nun an folgt das Geschehen einer schwebenden Traumlogik, die zunächst einen wenig plausiblen Plot zu produzieren scheint: Durch Camille gerät Jean in eine merkwürdige Salongesellschaft in einer Wohnung im noblen Pariser Stadtteil Auteuil.

Kurz darauf fährt Jean mit Camille mit deren Freundin Martine ins Chevreuse-Tal südwestlich von Paris, wo Martine eine Wohnung in einem alten Haus zu mieten plant – einem Haus, in dem, das kristallisiert sich nach und nach heraus, Jean Bosmans selbst 15 Jahre zuvor als Kind gelebt hat. Der gealterte Bosmans reflektiert Jahrzehnte später die auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Wendungen seines Lebens:

„Anfangs glaubst du an Zufälle, aber nach fünfzig Jahren hast du einen Panoramablick über dein Leben. Und dann sagst du dir, wenn du tiefer gräbst, wie Archäologen, dann wirst du dich wundern, weil du Verbindungen entdeckst zu Personen, von deren Existenz du nichts geahnt oder die du vergessen hattest, ein Netz um dich herum, das sich fortspinnt bis ins Unendliche.“
(Aus Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse)

Modianos Entscheidung, seine Hauptfigur nicht aus der Ich-, sondern aus der Er-Perspektive zu erzählen, ermöglicht es ihm, den Roman geheimnisvoll aufzuladen. Jean Bosmans bleibt eine Blackbox, die nur exakt jene Informationen liefert, die der Augenblick erfordert, und auch diese erscheinen nur bedingt zuverlässig.

„Unterwegs nach Chevreuse“ lässt sich auch als Kriminalgeschichte lesen

Die mögliche Vorgeschichte zu „Unterwegs nach Chevreuse“ hat Modiano in dem Roman „Straferlass“ aus dem Jahr 1988 erzählt, in dem ein Fünfjähriger von seinen Eltern für einen Sommer der Obhut einiger Frauen überlassen wurde.

In dem Roman „Ein Stammbaum“ aus dem Jahr 2005 rollte Modiano die Geschichte noch einmal auf, und auch die Figur Jean Bosmans tauchte als Alter Ego des Autors bereits in dem Roman „Der Horizont“ auf.

Modianos Werk ist in seiner Gesamtheit also so rhizomatisch wie jedes einzelne Buch ein neuer Anlauf ist, Verschüttetes freizulegen. „Unterwegs nach Chevreuse“ lässt sich auch als Kriminalgeschichte lesen, denn es stellt sich heraus, dass der 20-jährige Jean im Jahr 1966 keineswegs paranoid ist, wenn er von einem Netz spricht, das sich langsam um ihn zuzieht.

Mehrere finstere Gestalten, an die er sich teilweise aus seiner Kindheit erinnern zu können glaubt, tauchen plötzlich im Dunstkreis von Camille, dem Totenkopf, auf. Offenbar glauben sie, dass Jean in jenem Haus in Chevreuse vor 15 Jahren eine für sie entscheidende Beobachtung gemacht hat, die ihnen nun zu viel Geld verhelfen könnte. Es ist Camille, die ihn warnt:

„Sie hob den Kopf zu ihm.
‚Jean, du musst dich in acht nehmen. Es gibt Leute, die haben Böses mit dir im Sinn.‘
Das hatte sie hastig gesagt, nicht in ihrem gewohnten schleppenden und sanftmütigen Tonfall. Darauf war er überhaupt nicht gefasst.“

(Aus Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse)

Erlebtes, Geträumtes und frei Erfundenes verbinden sich so lange miteinander, bis daraus eine eigene Realität entsteht

Der Plot, die Story, die Handlung sind allerdings nicht das Entscheidende an diesem fein gearbeiteten, schönen Roman. Es ist vielmehr der literarische Nachvollzug eines Prozesses, in dem sich Erlebtes, Geträumtes und frei Erfundenes so lange miteinander verbinden, bis daraus eine eigene, für sich gültige Realität entsteht.

Das schreibende Erinnern hat bei Patrick Modiano nicht die Funktion einer Chronik, in der die Dinge eingeschlossen und aufgehoben werden. Es ist vielmehr ein offener Prozess, in dem Details – ein Lied, eine markante Armbanduhr, eine Wohnungseinrichtung – als Ankerpunkte gegen die Übermacht der Vergänglichkeit fungieren.

Der 20-jährige Jean Bosmans selbst zieht sich angesichts der Bedrohung durch die ihn verfolgenden Dunkelmänner in ein Dorf an der Côte d’Azur zurück, um das, was ihm widerfahren ist, aufzuschreiben, genauer gesagt: zu überschreiben und in seinem Sinne zu formen:

„Er hatte ihnen ihre Leben gestohlen und sogar ihre Namen, und geben würde es sie nur noch zwischen den Seiten dieses Buches. In der Wirklichkeit und auf den Pariser Trottoirs hatte man nicht mehr die geringste Chance, ihnen zu begegnen. Und außerdem war der Sommer gekommen, ein Sommer, wie er noch nie zuvor einen erlebt hatte, ein Sommer mit so klarem heißen Licht, dass sich diese Gespenster am Ende aufgelöst hatten in Luft.“
(Aus Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse)

Ein luftiges, helles Ende – von dem man sich allerdings nicht täuschen lassen sollte

„Unterwegs nach Chevreuse“ hat ein derart luftiges, helles Ende verdient. Ein Ende, von dem man sich allerdings nicht täuschen lassen sollte: Nur einem großen Autor gelingt es, mit einer derartigen Leichtigkeit zu schreiben und dabei wie nebenbei vom Versuch zu erzählen, die Hoheit über das eigene Leben und die Vergangenheit zu gewinnen.

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