Buchkritik

Olga Tokarczuk – Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte

Stand
AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Ein bedeutender Kurort in Schlesien, eine misogyne Männerrunde kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs und unheimliche Todesfälle: Das sind die Ingredienzien von „Empusion“, des neuen Romans der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuks, der auf raffinierte Weise mit Thomas Manns „Zauberberg“ in Dialog tritt.

Audio herunterladen (7 MB | MP3)

Das schlesische Görbersdorf konnte zwar mit dem schweizerischen Davos nicht mithalten, dafür war es zu wenig mondän und pittoresk. Aber doch genoss das Städtchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Ruf, einer der bedeutendsten Luftkurorte Europas zu sein. Unweit der tschechischen Grenze gelegen, nur wenige Kilometer von Breslau entfernt, hatte dort der Arzt Hermann Brehmer Mitte des 19. Jahrhunderts ein Sanatorium für Tuberkulosekranke errichtet und mit einer speziellen Kaltwasser-Kur Maßstäbe gesetzt.

In ihrem neuen Roman, dem ersten seit ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 2019, schickt Olga Tokarczuk einen jungen Lemberger Studenten der „Canalisationsbautechnik“ in diese Anstalt der hoffnungsfrohen Moribundi. Mieczysław Wojnicz, an der Schwindsucht leidend, nimmt Quartier im „Gästehaus für Herren“ des Wilhelm Opitz, um sich in die Obhut der Koryphäe Doktor Semperweiß zu begeben und dem strengen Regiment des Kurbetriebs anzuvertrauen.

Der Kuraufenthalt trägt sich zu im Jahr 1913, und wer nun an Thomas Manns „Zauberberg“ denkt und an dessen Hans Castorp, der liegt gar nicht falsch: „Empusion“, so der bemerkenswerte Titel von Tokarczuks Roman, tritt in einen intensiven Dialog mit dem Werk des Nobelpreisträger-Kollegen.

Empusion, um mit dem Titel zu beginnen, ist eine Wortneubildung, zusammengesetzt aus zwei Bestandteilen: Empusa bezeichnete in der griechischen Mythologie eine weibliche Spukgestalt. Und das Symposion war ursprünglich ein geselliges Zusammensein, bei dem fröhlich getrunken und diskutiert wurde. Das Gesellige spielt bei den abendlichen Diners im „Gästehaus für Herren“ eine entscheidende Rolle: Sie beginnen meist mit einem exotisch schmeckenden Likör namens „Schwärmerei“, der die männlichen Gäste in einen angenehm berauschten, fast halluzinativen Zustand versetzt.

Dann debattiert die Tischgesellschaft, bestehend aus einem katholischen Gymnasiallehrer aus Königsberg, einem sozialistischen Philologen aus Wien, einem Theosophen aus Breslau und einem Kunststudenten aus Berlin, leidenschaftlich über Gott und den Untergang des Abendlandes, die Demokratie und die Kriegsgefahr. Alle argumentativen Wege und Irrwege aber führen unweigerlich zu den Frauen. Sie spuken durch alle Gedankengänge:

„Verglichen mit dem zivilisierteren Mann stelle das enger mit der Natur und deren Rhythmen verbundene Weib gewissermaßen einen Atavismus dar, konstatierte Lukas voller Selbstgewissheit, die er noch hervorhob, indem er das Wort »A-ta-vis-mus« in seine einzelnen Silben unterteilte. Opitz wiederum fügte hinzu, zwar verstehe er nicht ganz, was so ein Atavismus eigentlich sei, gewiss jedoch sei das Weib häufig ein gesellschaftlicher Schmarotzer (…).“

Tokarczuk füttert ihre Protagonisten mit den misogynen Thesen der Philosophie- und Literaturgeschichte: Ihre todgeweihten Helden paraphrasieren munter Autoren wie Augustinus und Darwin, Freud und Nietzsche, Ezra Pound und August Strindberg, Ovid und Thomas von Aquin und bevorzugt natürlich den berüchtigten Antisemiten und Frauenhasser Otto Weininger.

Die Herren, und Tokarczuks junger Student Wojnicz lauscht ihnen mit heißen Ohren, reproduzieren voller Inbrunst die sexistischen Ansichten ihrer Zeit: Das Gehirn der Frau sei schlicht anders aufgebaut, überdies natürlich kleiner. Die Frau sei triebgesteuert und könne nicht bei vollem Bewusstsein handeln, sie repräsentiere eine vergangene und niedere Phase der Evolution. Immerhin tauge die Frau zur Mutterschaft, und da sie Kinder gebäre, sei der weibliche Leib Allgemeingut. Kurzum:

„Indem das Weib ein Weib ist, gehört es uns allen.“

Tokarczuks lustvolles Spiel mit diesen Versatzstücken der europäischen Geistesgeschichte hat nicht die Originalität und Höhe der Wortduelle zwischen Settembrini und Naphta im „Zauberberg“ – wir befinden uns in Görbersdorf ja auch nur 570 Meter über dem Meeresspiegel und nicht 1560 Meter wie in Davos. Aber es ist auf entlarvende Weise unheimlich, nicht zuletzt, weil in den letzten Jahren manche der hier entfalteten Diskurse tatsächlich wiederkehrten – ob in den populistischen Bewegungen Europas oder bei evangelikalen Fundamentalisten in den USA, deren Einflussbereich sich inzwischen bis in den Supreme Court erstreckt.

Unheimlich ist dieses Buch noch in ganz anderer Hinsicht: Im Untertitel heißt Tokarczuks Roman „Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“, und die Verbindung von Natur, Weiblichkeit, Begierde, Gefahr und Tod ist von Anfang an präsent. Kurz nach Wojnicz‘ Ankunft im „Gästehaus für Herren“ erhängt sich die Frau von Wilhelm Opitz, oder wurde sie zu Tode gebracht?

Wojnicz hört Geräusche auf dem Dachboden und entdeckt dort das Zimmer der Verstorbenen, samt einem Stuhl, der dazu dient, Menschen zu fixieren – man muss hier an den Viktorianischen Roman denken, wo die „madwoman in the attic“ zur literaturhistorischen Trope wurde. Wojnicz erfährt zudem vom eigentlichen Mysterium des Ortes Görbersdorf:

„Jedes Jahr im Herbst, um den Sankt-Martins-Tag, kommt jemand im Wald ums Leben, meistens ein Hirte oder ein Köhler. Ein Mensch, das heißt ein Mann. Jung oder in den besten Jahren. Und das Schrecklichste – man findet die blutigen Teile der zerfetzten Leiche im Wald verstreut, sie müssen dann aufgelesen werden, damit man sie bestatten kann. So geht es schon immer. Und in den letzten Jahren sind nicht nur einheimische Menschen, das heißt Männer, die Opfer. Die grausamen Morde betreffen auch Ankömmlinge von außerhalb.“

Wojnicz, der mit einem übermächtigen Über-Ich-Vater ringt und in einem – wie man heute sagen würde – nicht-binären Körper zu Hause ist, scheint in großer Gefahr zu schweben. Tokarczuk inszeniert ihre Zauberberg-Pastiche als gruselige Zwischensphäre. Die Übergänge zwischen Wirklichem und Fantastischem sind fließend, und es sind gerade die Phantasmen einer in Gefahr geratenen, vom Strömenden, Weiblichen, Uneindeutigen bedrohten Männerwelt, die hier vorgeführt und zugleich der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Dass auch die Erzählerstimme, besser: die Erzählerstimmen vage bleiben, ist da nur konsequent: Es sind „Wesenheiten“, die aus Nischen und Ritzen hervorlugen, namenlose Bewohnerinnen der Wände, Böden und Zimmerdecken, jene vergessenen Seelen und Gedanken, die von der Geschichte verschluckt, von den Herrschenden unterdrückt wurden. Sie sind das Fremde, das uns „aus dem Schatten heraus“ beobachtet. Das Fremde und Unheimliche ist aber, das wissen wir seit Freud, das ehemals Heimelige, das nun im Verborgenen weilt und uns auflauert. In dem Falle: den Herren der Schöpfung an den gestärkten Kragen möchte. Einer der Gäste, der verdeckt an der Aufklärung der Todesfälle arbeitet, muss bekennen:

„Ich kann nur sagen, dass ich übernatürliche Ursachen nicht ausschließe.“

„Empusion“ ist eine mit allen möglichen Genres spielender Roman, brillant geschrieben und brillant von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein übersetzt – schon alleine, dass sie ein Wort wie „Kraftlackel“ in ihrer deutschen Fassung verwenden, spricht für den Sprachreichtum der Übersetzerin und des Übersetzers.

Mit „Empusion“ steigt Olga Tokarczuk auf den Dachboden der Literaturgeschichte und findet dort keine „madwoman“, sondern vor allem so verehrte wie verstaubte Dichter; sie lauscht ihnen, weiß durchaus stilistischen Gefallen zu finden an ihren Werken, wendet aber deren Denken zugleich gegen sie selbst. Das macht diesen Roman zu einem großen, sehr zeitgenössischen Spaß – er ist sowohl Verbeugung wie Abkehr, Weiter- und Überschreibung des „Zauberbergs“, und eine feministische Antwort auf die Misogynie der Heroen, deren Schultern literarisch dennoch tragen.

Platz 3 (51) Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein

In ihren Essays und Vorträgen verknüpft die polnische Nobelpreisträgerin eigene Lektüreerfahrungen mit dem Zeitgeschehen und der Frage: Wie lässt sich darüber adäquat schreiben? Die Polyphonie der Gedanken löst Genregrenzen auf.

Buchkritik Olga Tokarczuk - Die grünen Kinder. Bizarre Geschichten

Olga Tokarczuk erzählt bizarre Geschichten über grüne Kinder, uralte Einmachgläser und runde Briefmarken. Die polnische Literaturnobelpreisträgerin erweist sich als kunstvolle Schöpferin düster-anziehender Visionen über die Zukunft des Lebens und Sterbens.
Rezension von Clemens Hoffmann.

Erzählungen
Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein
Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-10029-4
240 Seiten
22 Euro

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

SWR2 lesenswert Kritik Literaturnobelpreis 2019 für Peter Handke

Die polnische Autorin Olga Tokarczuk bekommt den Literaturnobelpreis 2018, der österreichische Schriftsteller Peter Handke ist der Preisträger 2019. Frank Hertweck über die Literaturnobelpreis-Vergabe 2018/2019.

SWR2 lesenswert extra SWR2

Stand
AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer