Buchkritik

Norbert Scheuer - Mutabor

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AUTOR/IN
Wolfgang Schneider

In seinem neuen Roman „Mutabor“ schreibt Norbert Scheuer seine bereits weit verzweigte Eifel-Saga fort. Es ist ein dunkles, poetisches Buch, voller Wahn und Gewalt, Liebesqual und Verhängnis.

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Sehnsucht nach Verwandlung ist das Leitmotiv von Ninas Geschichte

Im Zentrum von „Mutabor“ steht eine junge Frau. Scheuer-Leser sind ihr schon als Nebenfigur seines Romans „Am Grund des Universums“ begegnet: Nina, die dort frühmorgens Zeitungen austrug und offenkundig psychische Probleme hatte, weil sie sich „ritzte“.

Das vernachlässigte und verträumte Mädchen ist eine Außenseiterin in Kall, jenem Eifel-Örtchen, wo Norbert Scheuer seine Romane spielen lässt, die sich eigenständig lesen lassen, auch wenn sie immer wieder aufeinander Bezug nehmen und die Perspektiven variieren.

Sehnsucht nach Verwandlung ist das Leitmotiv von Ninas Geschichte. Deshalb der Titel „Mutabor“, das Zauberwort aus Wilhelm Hauffs Märchen „Kalif Storch“, das bedeutet: „Ich werde mich verwandeln“. Nina will heraus aus der larvenhaften Unwissenheit um sich selbst, sie sucht nach ihrer Herkunft und Identität. Ihren Vater kennt sie nicht, und von ihrer Mutter Ruth weiß sie wenig.

Nina wird von der für sie zuständigen Sozialarbeiterin sexuell missbraucht

Der Ort, an dem sich die Schicksale kreuzen, ist die Supermarktcafeteria von Kall, wo die „Grauköpfe“ ihren Stammplatz haben, eine Gruppe alter Männer, die Schwatzbedürfnis und Gier nach Neuigkeiten zusammentreibt. Sie bilden gleichsam den antiken Chor, der das Geschehen begleitet. Und könnten Nina einiges von ihrer Herkunft verraten, schweigen jedoch hartnäckig. Auch mit der für sie zuständigen Sozialarbeiterin, dem „Krapfen“, hat sie wenig Glück. Nina, die nach Zuneigung dürstet, wird von ihr sexuell missbraucht, ein wichtiges Motiv des Romans.

„Also lasse ich alles mit mir geschehen… Wenn ich später nackt ausgestreckt neben ihr liege, weine ich und will sie beißen, so fest, dass Blut aus meinem Mund fließt wie aus dem Mund einer wilden Bestie, die gerade ein Tier gerissen hat. Abrupt setzt sie sich auf und zieht hastig ihren BH an. Während sie ihre Bluse zuknöpft, warnt sie mich, bloß niemandem von uns zu erzählen, sonst würde sie alle meine Verfehlungen melden müssen.“
(Aus Norbert Scheuer: Mutabor)

Die liebevolle Zuwendung der Lehrerin Sophia Molitor zu Nina hat mit einer ominösen Schuld zu tun, die Nina erst spät und in Bruchstücken offenbar wird

Die einzige, die ihr liebevoll und helfend begegnet – bis Nina mit ihren Fragen zu weit ins Verschwiegene, Verdrängte vorstößt – ist die Lehrerin Sophia Molitor, die sie „Tante“ nennt. Ihre Zuwendung hat jedoch mit einer ominösen Schuld zu tun, die Nina erst spät und in Bruchstücken offenbar wird.

Die zunehmend verwirrte alte Lehrerin wird von ihrer Vergangenheit eingeholt. Ihr vor langer Zeit in China verschollener, zu Lebzeiten sehr affärenfreudiger Mann Eugen sucht sie in Träumen und Visionen heim – Szenen, die in Scheuers dunkel-poetischer Erzählweise beeindruckend ins Phantasmagorische übergehen:

„Nach Bier, Schnaps, Zigarren und Pferdeschweiß stinkend, verlangt er von ihr, eines der teuren chinesischen Seidenkleider und die Lotusschuhe anzuziehen, die er ihr von seinen Reisen mitgebracht hat; widerwillig, nur, um ihm zu gefallen und weil sie ihn so liebt, schlüpft sie in das Kleid und zwängt ihre Füße in die viel zu kleinen Schuhe.“
(Aus Norbert Scheuer: Mutabor)

China, Afghanistan, ein magisches Byzanz – Norbert Scheuer treibt seine Figuten hinaus aus Kall

„Mutabor“ ist ein Geflecht von teils nur angedeuteten Geschichten, ein dunkles, poetisches Buch, voller Wahn und Gewalt, Liebesqual und Verhängnis. Von Heimat als heiler Welt kann keine Rede sein. Zwischendrin hat der Roman aber auch Momente der Heiterkeit, vor allem, wenn Nina sich an den verstorbenen Großvater erinnert.

Ihn, der im Alter immer mehr in der Phantasie lebte, hat sie geliebt, vor allem die gemeinsamen Ausflüge im Opel Kapitän. Der regionalen Gebundenheit und Bodenständigkeit des Erzählers Norbert Scheuer kontrastiert ja die Fluchttendenz seiner Figuren. China, Afghanistan, ein magisches Byzanz – es treibt sie hinaus aus Kall, und der Roman setzt diese Sehnsucht in die Ferne schon als Kindheitserinnerung wunderbar-wunderlich ins Bild:

„Großmutter hatte Gründe, gegen unsere Autofahrten zu sein, weil Opa schon viele Unfälle gebaut hatte und seinen Führerschein vor ewigen Zeiten hatte abgeben müssen. Außerdem war der Kapitän abgemeldet, verkehrsuntüchtig, durchgerostet mit freiem Blick auf die Straße durch die Löcher im Unterboden, die Stoßstangen gelockert, die Aufhängungen des Auspuffs fast alle abgerissen, die Leistung der Bremsen kaum spürbar… Opa hatte nur ein Ziel: Byzanz, das wir allerdings nie erreichten. Wir haben diesen Ort jedes Mal anscheinend nur knapp verfehlt. Wenn wir den Berg hinaufkrochen, war Opa ganz euphorisch und sich sicher, wir könnten von oben diese sagenhafte Stadt sehen, das Meer mit den Delfinen und die kreischenden Möwen am Himmel.“
(Aus Norbert Scheuer: Mutabor)

Paul Arimond entdeckt an Ninas Körper das bienenförmige Muttermal, das er selbst und alle Arimonds haben

Verwandlung erhofft sich Nina vor allem auch von ihrer Liebe zu Paul Arimond, der sie lange wenig beachtet. Er geht als Sanitäter nach Afghanistan – davon hat der Roman „Die Sprache der Vögel“ erzählt –, und als Nina erfährt, dass er bei einem Taliban-Anschlag schwer verletzt wurde, kümmert sie sich um den traumatisierten und verbitterten jungen Heimkehrer, bis er ihre Zuneigung erwidert. Die eine Nacht, die sie miteinander verbringen, ist die schönste in Ninas bisherigem Leben. Dabei entdeckt Paul an Ninas Körper allerdings das bienenförmige Muttermal, das er selbst und alle Arimonds haben – und zieht sich danach zurück.

„Klingle ich bei ihm, öffnet er nicht, lässt mich vor der Tür stehen und tut so, als wäre er nicht zuhause; auch auf meine Nachrichten antwortet er nicht. Nur einmal schrieb er, ich solle ihn in Ruhe lassen. Warum hat er sich so verändert, warum sagt er nicht, was ich falsch gemacht habe?“
(Aus Norbert Scheuer: Mutabor)

Norbert Scheuer knüpft die Kall-Symbolik noch dichter – überall geheime Beziehungen und verzweigte Referenzen

Norbert Scheuer knüpft die Kall-Symbolik noch dichter als in den vorherigen Romanen: Pferde (eines heißt ebenfalls Mutabor), verschwundene und wieder aufgetauchte Armreife, Muttermale, Schildkröten, Vögel, die Geheimnisse am Grund des künstlichen Sees – überall geheime Beziehungen und verzweigte Referenzen.

Am Ende zieht es auch Nina fort – auf die griechischen Inseln. Sie sehnt sich nach der mythischen Welt, die sie von den Bierdeckelpoemen des Griechen Evros kennt, in dessen Lokal sie aushilft. Evros, der vor Jahren an einer Eisenpresse sämtliche Finger verloren hat, druckt mit kleinen Stempeln versponnene Sätze über die Verstrickungen der antiken Götter und Fabelwesen in die Bierdeckel. 33 dieser mythischen Poeme sind im Roman enthalten.

Mutabor ist eines von Scheuers eindringlichsten und schönsten Erzählwerken

Noch einmal vergrößert wird der symbolische Beziehungsreichtum des Romans durch die zartgestrichelten Tintentropfen-Zeichnungen, in denen Nina ihre Sehnsüchte, Ängste und Obsessionen ausdrückt und die real von Erasmus Scheuer, dem Sohn des Autors, stammen. Wegen seiner Dichte ist „Mutabor“ nicht leicht zugänglich. Es ist aber auch eines von Scheuers eindringlichsten und schönsten Erzählwerken.

Buchkritik Norbert Scheuer: Winterbienen

Norbert Scheuer erzählt in seinem neuen Roman von einem Bienenzüchter in der Eifel am Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein kleines Schicksal? Jedenfalls eine große Geschichte. Fantastischer hat Norbert Scheuer noch nie erzählt, meint Alexander Wasner.

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