Doppelung und Spiegelung als Grundprinzip
„120, Rue de la gare“: Zwei Mal die gleiche Adresse, zwei Mal die letzten Worte eines Sterbenden. In der zentralen Geschichte in diesem Band ist alles doppelt. Von zwei Morden handelt sie, im Zweiten Weltkrieg spielte sie, zwischen einem deutschen Kriegsgefangenenlager, zwischen Lyon und Paris.
Zwei Morde, zwei Detektive, zwei Polizisten und zwei Frauen, die beide Hélène heißen. Zwei französische Städte im kalten Winternebel, zwei geheimnisvolle Häuser und zwei Straßen, die ineinander übergehen. Die Doppelung, die Spiegelung ist das Grundprinzip des „Noir“, im Film, in der Literatur und in diesem Comic.

Meisterhafte Zeichnungen mit dumpfer Schwere
Schwarz und Weiß, Licht und Schatten, ein einsamer Detektiv zwischen zwei Welten, hier ist es der Franzose Nestor Burma. Dieser kommt aus der deutschen Kriegsgefangenschaft zurück nach Frankreich. Sein Land ist besetzt und im Bahnhof von Lyon wird vor seinen Augen seiner früherer Mitarbeiter Bob erschossen. Bob, der auf eigene Faust einem Gentlemen-Verbrecher und seiner schönen Tochter und einem Millionen-Versteck auf der Spur war.
Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart, die große, die politische Geschichte der deutschen Besatzung ragt in die kleinen Geschichten. Ineinander verschränkt sind das große Morden und die kleinen Morde.
Nasse Nebelnächte, verschneite Landstraßen, die Kälte zugiger Bahnhöfe. Jacques Tardi gibt seinem Noir eine dumpfe Schwere. Seine meisterhaften Zeichnungen sind vor allem Atmosphäre, mehr noch: Die Atmosphäre ist Tardis eigentliches Thema.
Eine Verknüpfung von Expressionismus und Realismus
Im Film ist „Noir“ in erster Linie ein Stil, eine Verknüpfung von Realismus und Expressionismus: Licht und Schatten, Schein und Sein, Kontraste und Konflikte bestimmen eine Welt, in der der einzelne allein und verloren ist, bedrängt von übermächtigen sozialen Kräften.
„120, Rue de la gare“ ist eine Comic-Geschichte aus den 80er Jahren, einer Zeit, in der der Noir wieder in Mode kam, auch im Comic. Aber Jacques Tardi ist kein Epigone von Raymond Chandler und Hollywood. Er geht weiter zurück, zum Marquis de Sade und Edgar Allan Poe, zu einer Literatur, aus der sich düstere Rätselsätze machen lassen, Rätsel, an denen sich selbst Meisterdetektiv Nestor Burma die Zähne ausbeißt.
Die Bilder sind nur Anzeichen der Geschichte
Tardis Stil ist komplexer als die klassischen Schwarz-Weiß-Kontraste. Der Realismus, die traurige Weite seiner winterlichen Stadtlandschaften trifft auf die Enge klaustrophobischer Innenräume.
Hände und Gesichter seiner Figuren sind grob und flächig, die Panels scheinen zu eng zu werden und lassen einem eine Geschichte entgegenkommen, die sich zugleich entzieht, weil sie schon immer weiter ist, als die Bilder, die nur Anzeichen sind.
Erdrückende Anzeichen, erdrückend durch eine Atmosphäre der Vergeblichkeit. Das Weiß von Tardis Schnee, das Schwarz seiner Regenpfützen auf dem Kopfsteinpflaster, lassen dem Gentlemen-Verbrecher Eiffelturm-Jo und seiner Tochter schon bildlich keinen Raum, während die deutsche Wehrmacht mit ihren grauen Uniformen anrückt.
Tardi macht einen Krimi zum Spiegel des 20. Jahrhunderts
Die Brutalität dieser Welt, in der auch die Stützen der Gesellschaft, der Anwalt, der Arzt, der Kommissar, Verbrecher sind, diese Brutalität entsteht nicht im Kontrast von Schwarz und Weiß, sondern zwischen Grau und noch mehr Grau.
Seine Geschichten und die große Geschichte verschränken sich stets bei dem Comic-Zeichner Jacques Tardi. Von der Pariser Kommune, von der Gesellschaft des Fin de Siècle erzählt er und immer wieder vom Krieg, vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg. Selbst wenn die Story bloß ein Krimi von Leo Malet ist, unter Tardis Feder wird sie zu einem Spiegel des 20. Jahrhunderts.