Eine Büste Gotthold Ephraim Lessings steht im sächsischen Kamenz vor dem 1931 eröffneten Lessing-Haus (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)

Klassiker der Schullektüre

Nathan der Weise – Lessings Lehrstück der Toleranz

Stand
AUTOR/IN
Dagmar Lorenz
ONLINEFASSUNG
Candy Sauer

Lessings Drama "Nathan der Weise" gilt als Plädoyer für Toleranz und Humanität im Zeichen der Aufklärung. Bis heute wird es im Deutschunterricht als Beispiel für eine Haltung gelebter Toleranz gelesen, die sich angesichts aktueller gesellschaftlicher Probleme immer wieder neu bewähren muss. Das 1779 veröffentlichte Stück war damals ein Tabubruch: Lessing hatte einen Juden zum positiven Helden gemacht, einen Angehörigen einer seinerzeit in Europa meist verachteten Minderheit. Seine Nathan-Figur streitet gegen religiöse Engherzigkeit und für ein aufgeklärtes Gottesverständnis. Das Drama spielt in der Zeit der Kreuzzüge, thematisiert das Verhältnis der drei großen monotheistischen Religionen und bezieht den muslimischen Sultan Saladin als historische Figur mit ein - "Nathan der Weise" bietet auch im 21. Jahrhundert Stoff für aktuelle Diskussionen.

Handlung

Der reiche jüdische Kaufmann Nathan kehrt von einer Handelsreise zurück und erfährt, dass sein Haus angezündet wurde. Fast wäre seine Tochter Recha darin verbrannt – hätte sie nicht ein christlicher Tempelritter aus den Flammen gerettet. Nathan lädt den Tempelherrn in sein Haus ein, dieser verliebt sich in Recha und hält um ihre Hand an. Nathan bittet ihn um Geduld, doch der Tempelherr misstraut ihm. Er erfährt, dass Recha nicht Nathans leibliche Tochter ist, sondern ein angenommenes Christenkind. Als der christliche Patriarch von Jerusalem davon erfährt, will er Nathan für diesen angeblichen Frevel auf dem Scheiterhaufen sehen:

Patriarch:
Der Jude wird verbrannt ... Ja, wär' allein
Schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt
Zu werden! Was? Ein Kind ohn' allen Glauben
Erwachsen lassen? Wie? Die große Pflicht,
Zu glauben, ganz und gar ein Kind nicht lehren?
Das ist zu arg!

Doch Nathans Standpunkt ist klar: Was heißt das schon? Jüdisches Volk, Christen, Muslime – wir haben uns das Volk, dem wir angehören, ja nicht ausgesucht. Sind wir denn in erster Linie Christ oder Jude? Nein, wir sind vor allem Menschen!

Denn genau darum geht es in Lessings aufklärerischem Drama. Und dass überhaupt jemand einer bestimmten Religion angehört, ist doch eigentlich nur abhängig von den eigenen Eltern und deren überlieferten Erzählungen. Denen glaubt man, weil man sie liebt.

Die zweite Gefahr droht Nathan vonseiten des Sultans, der dringend Geld braucht, um den Krieg gegen die Tempelritter führen zu können. Der Sultan stellt ihm eine Falle mit der Frage, welche Religion er für die wahre halte.

Ringparabel

Die Ringparabel, mit der Nathan darauf antwortet, ist der Wendepunkt des Dramas: Ein Mann besitzt einen Ring, der über die magische Kraft verfügt, seinen Träger vor Gott und den Menschen angenehm zu machen. Der Ring wurde von seinen Vorfahren bisher an den jeweils liebsten Sohn weitervererbt. Doch da der Mann drei Söhne hat, lässt er von dem Ring täuschend ähnliche Kopien anfertigen. Der Vater stirbt, die Söhne erben jeweils einen Ring – und streiten bald, denn jeder behauptet, den echten Ring zu besitzen. Sie ziehen vor Gericht. Doch auch der Richter kann nicht entscheiden, welcher der echte Ring ist. Stattdessen gibt er den Söhnen einen Rat:

Nathan:
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!

Jeder von ihnen, so der Richter, könne auf diese Weise die Wunderkraft seines Ringes selbst hervorrufen. Die Ringe stehen also gleichberechtigt für die drei Religionen – Christentum, Judentum und Islam. Doch nicht das Äußere ist maßgeblich dafür, anerkannt zu werden, so Helmut Berthold, Geschäftsführer der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel,

Bevor die Hetze des Patriarchen wirken kann, entkommt Nathan der drohenden Gefahr. Es gelingt ihm, von einem Klosterbruder den Beweis dafür zu bekommen, dass Recha die leibliche Schwester des Tempelherrn ist. Der wiederum ist der Sohn von Saladins Bruder Assad, also der Neffe des Sultans. Am Ende steht die Demontage der vorgefassten Urteile: Die angeblichen Feinde sind in Wahrheit die eigenen Verwandten, die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehören.
Dass der Jude Nathan Recha damals aufgenommen hat, verweist auf seine eigene leidvolle Vorgeschichte. Denn Recha wurde zu ihm gebracht, kurz nachdem Nathans Familie, seine Frau und seine sieben Söhne, von Christen getötet worden waren. Um diese Endlosschleife der Gewalt zu durchbrechen, nimmt er das Christenkind bei sich auf. So entpuppt sich schließlich der vermeintlich geldgierige Jude als Beispiel für vorurteilsfreie Selbstlosigkeit.

Interpretation

Bei Lessing bedeutet Toleranz nicht Beliebigkeit im Sinne von "die drei Religionen sind sich alle irgendwie ähnlich und können daher auch tolerant sein". Für den Regisseur Tobias Sosinka steckt der Kern vielmehr in dem Satz "Es nehme jeder seinen Ring und eifre seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach". Denn es sei, so Sosinka, nicht egal, wer du bist und wo du herkommst; es geht also nicht um Gleichmacherei. Zumal das, so Sosinka, "die Konflikte ihrer Ernsthaftigkeit berauben" würde. Vielmehr solle jeder unter Beweis stellen, dass sein Weg der richtig sein könnte.

Klosterbruder:
Nathan! Nathan!
Ihr seid ein Christ! Bei Gott, Ihr seid ein Christ!
Ein bessrer Christ war nie!

Nathan:
Wohl uns! Denn was
Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir
Zum Juden!

Historischer Hintergrund des Dramas

Lessing veröffentlicht sein Theaterstück 1779 unter dem Titel "Nathan der Weise". Es ist seine Antwort auf die Dogmen der protestantischen Theologen, mit denen er sich heftig streitet. Und zugleich eine dankbare Würdigung seines Freundes, des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn.

Zu Lessings Lebzeiten richtete sich dieses Vorurteil vor allem gegen Angehörige des jüdischen Glaubens. Dass Lessing die Figur des Nathan so positiv zeichnete und in den Mittelpunkt des Dramas stellte, war ein Tabubruch. Im Europa vor der Französischen Revolution bediente die landläufige Meinung meist das negative Klischee vom raffgierigen jüdischen Christusmörder. In den Feudalstaaten des 18. Jahrhunderts lebten Juden unter stets bedrohten Bedingungen. Das Recht, sich niederzulassen, mussten sie sich per Schutzbrief erkaufen, in den Städten waren sie auf enge Ghettos verwiesen. Juden durften kein Handwerk ausüben, ihnen standen meist nur Berufe wie Geldverleiher, Hausierer, Kaufmann offen – Tätigkeiten also, die dazu angetan waren, den Groll ihrer Schuldner zu wecken und das Bild des unbarmherzigen Geldeintreibers zu festigen.

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Dagmar Lorenz
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Candy Sauer