Buchkritik

Natascha Wodin - Nastjas Tränen

Stand
AUTOR/IN
Katharina Borchardt

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Eine Putzfrau muss her. Das denkt sich die rückenkranke Ich-Erzählerin in Natascha Wodins neuem Roman, als sie 1992 nach Berlin zieht. Per Annonce sucht sie eine Putzhilfe, woraufhin sich etliche Frauen melden. Sie entscheidet sich für Nastja.

Zufall? Nein. Denn Nastja kommt aus der Ukraine – so wie auch die früh verstorbene Mutter der Erzählerin. Nach und nach entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen.

Eines Tages, Nastja kam schon seit zwei oder drei Monaten zu mir, legte ich eine alte, vor langer Zeit in Moskau gekaufte Schellackplatte mit ukrainischer Volksmusik auf, wehmütige, von Kopfstimmen getragene A-cappella-Gesänge aus der Herkunftswelt meiner Mutter, einer Ukraine, der ich auf meinen flüchtigen Arbeitsreisen als Dolmetscherin nie begegnet war. Ich hatte Nastja mit der Musik eine Freude machen wollen, aber stattdessen brach sie, die immer so zurückhaltend und scheinbar unbeschwert gewesen war, in Tränen aus.

„Nastjas Tränen“ – das salzige Zentrum dieses doch sehr warmherzig erzählten Romans und daher auch sein Titel.

Ein osteuropäisches Schicksal

Tatsächlich weint Nastja aber nicht oft. Sie ist um die 50 und hat bereits ein entbehrungsreiches Sowjetleben hinter sich: mit viel staatlicher Kontrolle, zerrüttend engen Wohnverhältnissen und schließlich auch nagendem Hunger. Und das, obwohl sie in Kiew Tiefbauingenieurin in leitender Funktion war.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber kann sie ihren Enkel Slawa nicht mehr ausreichend versorgen. Deshalb trifft sie eine Entscheidung: Sie geht nach Deutschland, um Geld verdienen und nach Hause schicken zu können.

In Berlin lebt sie zunächst illegal und schlägt sich als Putzfrau durch, berichtet die Erzählerin.

So begann meine Geschichte mit ihr. Schlagartig erkannte ich in ihren Tränen das Heimweh meiner Mutter wieder, dieses grenzenlose, unheilbare Gefühl, das das Rätsel meiner Kindheit gewesen war, das Mysterium meiner Mutter, die große dunkle Krankheit, an der sie gelitten hatte, solange ich sie kannte. Fast jeden Tag hatte ich ihre Tränen gesehen, und ich hatte immer gespürt, dass ich gegen das, was sich Heimweh nannte, keine Chance hatte.

In der ukrainischen Putzfrau sucht die Erzählerin ihre Mutter

„Sie kam aus Mariupol“, diese Mutter. So lautete daher auch der Titel der literarischen Spurensuche, die Natascha Wodin 2017 veröffentlichte und für die sie sehr zurecht den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt.

Sie wusste wenig über ihre ukrainische Mutter, die zusammen mit ihrem russischen Mann im Zweiten Weltkrieg verschleppt und als Zwangsarbeiterin nach Deutschland gebracht worden war. Und die sich Mitte der 50er Jahre – schwer depressiv – in einem Fluss in Franken ertränkte. Da war ihre Tochter elf Jahre alt.

2018 folgte dann der Roman „Irgendwo in diesem Dunkel“, in dem Natascha Wodin erzählte, wie ihr Leben mit ihrem traumatisiert-gewalttätigen Vater in einem Wohnblock für „Displaced Persons“ weiterging.

Beide Romane waren autobiographisch grundiert. Im Falle der früh verstorbenen Mutter musste Wodin stärker recherchieren; für die Vatergeschichte konnte sie mehr auf eigene Erinnerungen zurückgreifen.

Diesen Doppelroman sollte man idealerweise kennen, wenn man die Untertöne des Echos ermessen möchte, das in den auf einer realen Begegnung basierenden Gesprächen mit Nastja Jahrzehnte später in der Erzählerin nachklingt. In ihr kann man unschwer Natascha Wodin selbst erkennen.

Meine Geschichte hatte mich auf eine Weise eingeholt, wie ich es in meiner Phantasielosigkeit nicht geahnt hatte. Nastja lehrte mich das Fürchten. Alles, was ich längst hinter mir gelassen zu haben glaubte, die Angst meiner Eltern, ihre Rechtlosigkeit, ihr Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, kam nun durch die Hintertür wieder zu mir herein.

Doch darf man sich nicht täuschen lassen: Der Bezug zur eigenen Vergangenheit ist zwar der Grund dafür, dass die Erzählerin Nastjas Nähe sucht, sich mit ihr auseinandersetzt und sie in Berlin auch tatkräftig unterstützt. Er rahmt Nastjas Geschichte allerdings bloß ein.

Anders als in ihren vorherigen Romanen ist die Erzählerin hier bloß mittelbar betroffen, was ein bisschen schade ist. Denn Wodins Erzählstärke besteht ja darin, in ihren Büchern, wenn auch leicht fiktionalisiert, selbst als hörendes, wahrnehmendes, reagierendes – kurzum: persönlich betroffenes – Ich aufzutreten. Das war übrigens auch in ihrem Roman „Nachtgeschwister“ so, in dem sie ihre Beziehung zum Autor Wolfgang Hilbig erzählte.

In „Nastjas Tränen“ nun überwiegt das Referat der gefahrvollen Lebensgeschichte einer anderen Frau. Dieser Geschichte folgt man mit Spannung, keine Frage, denn die große Politik stößt die tatkräftige Nastja in immer wieder neue verzweifelte Lebenslagen, etwa im jahrelangen Kampf um eine gültige Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland. Dabei gerät sie an viele windige Gesellen und in einige moderne Leibeigenschaften.

Dies erlebbar zu machen, ist die große Stärke dieses wieder sehr zugewandt und zugleich alltagspräzise erzählten Romans. Selbst den Abzweigungen in die ebenfalls dramatischen Lebensgeschichten von Nastjas Schwester, Schwager, Tochter und Freund folgt man gern.

Dass jedoch die Ich-Erzählerin hier häufig völlig verschwindet, ist nicht nur schade, sondern ein richtiger Konstruktionsfehler. Auf der einen Seite meint die Erzählerin zu wissen, was Nastjas Schwester, Schwager, Tochter und Freund einst dachten und empfanden. Auf der anderen Seite fehlt über weite Strecken ihre eigene emotionale Reaktion auf alles Gehörte. Damit fehlt in diesem Roman auch jene präsente Erzählerin, die Natascha Wodins vorige Romane so stark gemacht hat.

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Katharina Borchardt