Buchkritik

Monika Helfer – Löwenherz

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Nach Monika Helfers autobiographischen Bestsellern „Die Bagage“ und „Vati“ schreibt die österreichische Schriftstellerin in ihrem neuen Erinnerungsbuch „Löwenherz“ über ihren Bruder Richard. Die Geschichte eines liebenswerten Sonderlings, der mit 30 Jahren Suizid beging, und der Abgesang auf eine Gesellschaft, in der Lebenswege abseits der Norm kaum eine Chance haben.

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Der Freitod nicht nur als Ausdruck einer Verzweiflung, sondern auch ein Akt der Freiheit

Schon zu Beginn verrät Monika Helfer, dass die Geschichte ihres Bruders Richard nicht gut ausgehen, dass er früh sterben, sich mit dreißig Jahren umbringen wird. Erst auf den letzten Seiten von „Löwenherz“ aber wird klar, dass diese Tat nicht nur Ausdruck einer Verzweiflung, sondern eben auch ein Akt der Freiheit ist, und zwar in einem Leben, das die Schwester als weitgehend fremdbestimmt schildert: Als Kind hat Richard unter einer Rachitis gelitten, die dazu führt, dass ihm jeder Schritt schwerfällt, dass er lieber liegt und in den Himmel schaut, statt mit ungelenken Bewegungen die Blicke auf sich zu ziehen.

„So war mein Bruder Richard: Er dachte beim Gehen ans Liegen, beim Sitzen ans Liegen, beim Stehen ans Liegen (…)“
(Aus: Monika Helfer: Löwenherz)

Körperliche und seelische Schmerzen begleiten Richard von Kindesbeinen an

Körperliche und seelische Schmerzen begleiten Richard von Kindesbeinen an. Die Mutter stirbt früh, der Vater zieht sich von den Kindern zurück; Richard wächst, getrennt von seinen Schwestern, bei einer ungeliebten Tante auf. Er wird von der Schule verwiesen, weil er die Unterschrift auf einem Attest fälscht.

Eher zufällig wird er Schriftsetzer, freut sich über seinen Job, der zwar nicht gut bezahlt wird, aber ihm auch nicht zu viel abverlangt. Wir befinden uns in den 1970er Jahren, in Deutschland wird die sogenannte Baader-Meinhof-Bande gejagt.

Der Tod scheint in diesem schmalen Band immer präsent zu sein

Monika Helfer erwähnt auch die Selbstmorde der Terroristen im Stammheimer Sicherheitsgefängnis. Der Tod scheint in diesem schmalen Band, der inhaltlich stark verdichtet ist, immer präsent zu sein. Im beschaulichen Bregenz aber scheinen die Uhren etwas langsamer zu laufen, jedenfalls für den Eigenbrötler Richard. Doch so „ambitionslos“, wie die Schwester erzählt, scheint dieser Tagträumer nicht gewesen zu sein. Er besitzt jedenfalls eine große Fantasie, die viele Menschen beindruckt.

„So viele Mädchen und Frauen sind abgefahren auf meinen Bruder und einige Männer auch, alle, weil er sie verzaubert hat mit seinen Geschichten vom Hundertsten ins Tausende, und auch wenn sie ihm die Geschichten nicht glaubten, waren sie doch hingerissen, denn sie dachten, was für eine poetische Natur, und meinten, so eine Natur sei der Hilfe bedürftig, und diese Hilfe wollten sie ihm geben, am liebsten exklusiv. Außer seinen Geschichten hatte mein Bruder nicht viel zu bieten.“
(Aus: Monika Helfer: Löwenherz)

Der Text kann auch als Versuch gelesen werden, die Ressentiments der Erzählstimme zu widerlegen

Wer die harten Urteile der Schwester über den Bruder liest, wird kurz zusammenzucken und erst im Laufe der Lektüre begreifen, dass der Text auch als Versuch gelesen werden kann, die Ressentiments der Erzählstimme, aber auch die anderer Figuren in „Löwenherz“ zu widerlegen. Das zeigt sich nicht zuletzt im Stil der Autorin.

Manche Sätze wirken, als wolle Monika Helfer in Gedanken zwei Schritte vor und dann wieder einen zurückgehen, um sich schreibend zu vergewissern, ob die Erinnerungen wirklich stimmen. Richard hat tatsächlich einiges zu bieten, was aber nach den üblichen Maßstäben der Gesellschaft oft übersehen wird: Er kümmert sich um einen zugelaufenen Hund, der ihm fortan nicht mehr von der Seite weicht. Außerdem malt er. Er ist Autodidakt. Seine Bilder sind wohl der sogenannten Naiven Kunst zuzurechnen.

„Wenn er am Fußboden in seiner Wohnung lag und malte, er malte nur im Liegen, wie denn sonst, dann, so hätte ich gesagt, hätte mich einer gefragt, war er glücklich. Und hätte man mich weitergefragt, was ich damit meine, hätte ich geantwortet. Beim Malen dachte er an nichts.“
(Aus: Monika Helfer: Löwenherz)

Ob Richard wirklich an nichts denkt, wenn er malt, bleibt ein Rätsel, wie so vieles, was dem jungen Mann widerfährt. Einmal wird er von einer schwangeren Frau aus dem Wasser gezogen, weil er sich einbildet, er könne mit einer rostigen Badewanne, die als Tier-Tränke dient, auf einen Baggersee hinauspaddeln.

Richard kentert, geht unter, weil er nicht schwimmen kann. Anders als Kitti, die ihn vom Ufer aus beobachtet, geistesgegenwärtig reagiert, ihm das Leben rettet. Und seitdem auf seltsame Weise über ihn verfügt.

„Putzi 1“ möchte lieber bei Richard bleiben

Zunächst gibt sie ihm die Tochter, die sie „Putzi 1“ nennt, um, wie sie sagt, „Putzi 2“ auf die Welt zu bringen. Auch das Baby wird, kaum ist es abgestillt, bei Richard „untergestellt“. Um es ein paar Tage später wieder abzuholen.

„Putzi 1“ möchte nun lieber bei Richard bleiben, der mittlerweile seine Aufgabe als Ersatzpapa gut meistert. Was die Mutter ohne weitere Nachfragen akzeptiert und wieder verschwindet. Richard hat bei all diesen Entscheidungen kaum etwas mitzureden. Er fügt und freut sich, seine Rolle als Vater und bester Freund der Kleinen weiterzuspielen.

„Putzi lebte mit ihm zusammen. Sie lebte nicht bei ihm, sie lebte mit ihm zusammen. Die beiden waren ein Team. Alle Arbeit teilten sie sich. Er kochte, sie schöpfte. Er räumte den Tisch ab, sie putzte den Tisch (…). Er spülte ab, sie trocknete ab. Er räumte den Geschirrkasten ein, sie die Bestecklade.“
(Aus: Monika Helfer: Löwenherz)

Sex interessiert mich nicht. Zu wenig Überraschung

Das ist eine fast schon märchenhafte Konstellation, vorbei an allen Regeln und Gesetzen, die im familiären Zusammenspiel normalerweise gelten. Die Geschichte ist auch im Fortgang so merkwürdig, dass sie nur als biographisches Zeugnis glaubhaft erscheint. Denn Richard Helfer, dieser eher passive Sonderling, lernt mit Tanja ausgerechnet eine Anwältin kennen, die ihn nicht nur heiraten wird, sondern auch Putzi adoptieren möchte. Wirklich erstaunlich, warum Richard die selbstbewusste Tanja „verzaubern“ konnte.

„Einmal sagte er zu mir: ‚Sex interessiert mich nicht.‘ Ich fragte – was zugegeben eine merkwürdige Frage ist: ‚Warum interessiert dich Sex nicht?‘ Er antwortete: „Zu wenig Überraschung.“
(Aus: Monika Helfer: Löwenherz)

Leerstellen sind in Helfers Ästhetik von zentraler Bedeutung

Was Tanja an Richard interessiert, wird in dem elliptisch erzählten Prosawerk nicht endgültig geklärt. Leerstellen sind in Helfers Ästhetik von zentraler Bedeutung. Vielleicht glaubt Tanja an das gemeinsame Glück, vielleicht mag sie Richards Sanftheit. Auf jeden Fall sie ist hartnäckig. Tanja recherchiert, kontaktiert die windige Kitti im fernen Graz, die prompt mit ein paar zwielichtigen Männern vorbeikommt, und die schreiende Putzi dem geschockten Richard entreißt.

Monika Helfer beschreibt – wie schon in ihren Vorgängerbüchern „Die Bagage“ und „Vati“ – die Familie als äußerst fragile Gemeinschaft, die stets zu zerbrechen droht. Das gilt auch für die Erzählerin, die vom Scheitern ihrer ersten Ehe berichtet, von ihrem hilflosen Gatten, den sie monatelang betrügt.

So unübersichtlich das Familiengeschehen, so flirrend der Text, der von zahlreichen Rückblenden und Vorgriffen geprägt ist. An einigen Stellen erzeugt Helfers Literatur, die ja von realen Geschehnissen erzählt, eine kurios künstliche Stimmung, oder wie Monikas neuer Mann, der Schriftsteller Michael formuliert: die Geschichte wirke „aus der Unwirklichkeit heraus“.

Monika Helfers zweite Ehemann Michael Köhlmeier tritt als literarischer Ratgeber auf

Michael – gemeint ist Michael Köhlmeier, mit dem Helfer bis heute verheiratet ist – tritt in „Löwenherz“ auch als literarischer Ratgeber auf, mit dem die Ich-Erzählerin über jenen Text spricht, den wir gerade lesen. Michael besucht den Bruder der Frau regelmäßig, unternimmt etwas mit Richard, wird aber den „Mann ohne Antrieb“, wie er sagt, letzten Endes nicht verstehen.

„Ich weiß niemanden, dem das Leben so wenig wichtig war, wie dem Richard.“
(Aus: Monika Helfer: Löwenherz)

Die Schwester nennt den Bruder einen „Schmähtandler“, und dieses klangpoetische Dialektwort ist vielleicht der Schlüssel zu diesem so schwer aufschließbaren Charakter. Das Geschichtenerfinden und auch die naive Malerei sind seine Möglichkeiten, sich die kaum zu ertragenden Verlusterfahrungen begreiflich zu machen.

Auch Richard Helfer lebte – zumindest in seinen letzten Jahren – wie sein historischer Namensvetter in einer Art Gefangenschaft

Monika Helfers literarische Kunst besteht nun darin, den Bruder eben doch nicht ganz so eigenschaftslos aussehen zu lassen, wie der verehrte Michael und vielleicht auch sie, die durchaus selbstkritische Verfasserin des Portraits, zeitweilig meinen.

Ihr Text ist tatsächlich klüger als die Figuren, die an Richards Charakter verzweifeln. Der belesene Vater nannte seinen Sohn mit Spitznamen „Löwenherz“, und es lässt sich bestimmt trefflich darüber streiten, wie sinnvoll oder abwegig die Analogie zum mittelalterlichen König und Kreuzritter war.

Auch Richard Helfer lebte – zumindest in seinen letzten Jahren – wie sein historischer Namensvetter in einer Art Gefangenschaft: Er wollte niemand mehr sehen, nicht einmal die Schwester. Er malte noch einige Bilder, vor allem menschenleere Landschaften. „Lange Leere“ heißt dann auch das Schlusskapitel in diesem literarischen Denkmal für einen Antihelden, der die Menschen nie als Mittel, sondern nur als unmittelbaren Zweck ansah.

Richard wollte und konnte vielen Gepflogenheiten der Gesellschaft nicht folgen, insofern haftete ihm etwas Wildes an. Damit liest sich der Band auch als Mahnung, die Momente des Andersartigen in unserer auf Zweckrationalität gegründeten Welt nicht zu tilgen.

Schlafesruh!

Dem Bruder, der nur im Liegen ohne Schmerzen war, gedenkt die Schwester in ihrem so persönlichen wie parabelhaften Text zum Abschied mit einem schönen Wort: Schlafesruh!

Mit „Löwenherz“ ist Monika Helfer nicht nur ein berührender Schluss ihrer Familien-Trilogie gelungen, dieses außergewöhnliche Bruder-Buch wird vor allem aus stilistischen Gründen schon bald zum Kanon biographischer Prosa gehören.

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Carsten Otte