Dichtung mit deutlichen Worten: Maria Stepanova erhält für ihren Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“ den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023. Ihre Texte „handeln“ vom Sterben auf dem Schlachtfeld und von Körpern, die auch im vermeintlich friedlichen Alltag zugerichtet werden. Stepanova schreibt eine politische und manchmal auch plakative Erinnerungspoesie, die in Deutschland kaum hinterfragt, sondern auf großer Bühne gefeiert wird.
Dichtung mit deutlichen Worten
Die Lyrik dieser Autorin hat den Vorteil der Offensichtlichkeit. Maria Stepanova schreibt eine Dichtung mit deutlichen Worten, da gibt es eher selten poetische Rätsel oder kryptische Verweise, die schwer nachzuvollziehen sind – wie es zeitgenössischer Lyrik oft vorgeworfen wird.
Stepanova hat sich dem erzählenden Klagelied verschrieben, das von den Zumutungen in einer obszönen und kriegerischen Welt berichtet. In ihrem Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“ beginnt das Leid mit der dauersexualisierten Perspektive des Mannes auf die Frau.
„Immer ist da ein Pornoheft, immer ist es
Versiegelt mit züchtigem Zellophan
Wie um zu sagen: Vor dir gab es keinen.
Worauf er oder sie immer sagt: Zieh das aus,
Mach die Blätter breit, zeig schon, was du da hast.
Und immer hat es da Mädchen ohne Kleider.“
aus: Mädchen ohne Kleider von Maria Stepanova
Maria Stepanova: Mädchen ohne Kleider – Mehr zum Buch bei der SWR Bestenliste
Die Poesie von Maria Stepanova basiert auf politischer Unbedingtheit
Vom allzu männlichen Blick im Alltag geht es ein paar Strophen später zum Krieger, der seine Männlichkeit auf dem Schlachtfeld austobt. Die Jury des Leipziger Buchpreises der Europäischen Verständigung ist von der – wie es in der Begründung heißt – „Unbedingtheit“ der Autorin überzeugt, mit „der sie auf der poetischen Wahrnehmung der Welt besteht.“
Man könnte auch sagen, Stepanovas Poesie basiert auf einer politischen Unbedingtheit. Dabei speist sich ihr Schreiben aus vielen Quellen und ist polyphon angelegt, wie ihr vielfach übersetztes und preisgekröntes Prosawerk „Nach dem Gedächtnis“ zeigt.
Der Romanessay erzählt von ihrer weitverzweigten Familie, die im Laufe der Epochen immer wieder Opfer von staatlicher Willkür geworden ist. Reiseberichte, alte Fotos, Briefe, Artikel, Tagebucheinträge und offizielle Dokumente, die unter anderem bei einem Umzug aus einer Wohnung zutage kamen, in der die Familie über 40 Jahre lang gelebt hatte, fügen sich zu einem Mosaik der Erinnerung.
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Literarische Stimmen werden collagiert und paraphrasiert
Das Schreiben dieses Buches sei eine Fortsetzung der mühseligen Sortierarbeit gewesen, verriet Stepanova in einem Gespräch mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja.
Die literarische Stärke der Schriftstellerin besteht im Collagieren und Paraphrasieren historischer, nicht zuletzt literarischer Stimmen. Puschkin und Brodsky liefern ihr Inspiration und Material, genauso wie Kinderverse und Partisanenlieder.
Zuweilen gibt es einen grotesken und ironischen Tonfall in Stepanovas Texten, meistens aber dominiert die Tragik des fatalen Durcheinanders von Verbrechen und Hoffnung. Nicht immer widersetzt sich Stepanovas Dichtung dabei „jeder Art von Parolen“, wie die Leipziger Buchpreis-Jury behauptet.
Hochpolitisch und manchmal plakativ
Im 2020 veröffentlichten Lyrikband „Der Körper kehrt wieder“, und zwar im Zyklus „Krieg der Tiere und Untiere“, formuliert sie ein ideologisches Programm, das nur notdürftig in Poesie verpackt ist:
„wenn wir erst die banken besetzen
und teilen lohn und brot
und die kleinen panzer schwimmen
im regenwasser halbtot
dann helfen wir der armen erde“
aus: Maria Stepanova, „Der Körper kehrt wieder“
Stepanova schreibt eine hochpolitische und manchmal auch plakative Dichtung, die hierzulande selten hinterfragt wird. Ob ihre Lyrik tatsächlich zur europäischen Verständigung beiträgt, wie es der Leipziger Preisname suggeriert, könnte durchaus bezweifelt werden.
Stepanova versteht sich als Chronistin ihrer Zeit
In ihrem gerade veröffentlichten „Winterpoem 20/21“ geht es neben dem Gefühl, in eisigen Pandemietagen auch sprachlich eingefroren zu sein, um einen „Sniper, der jetzt auf die früheren Freundinnen schießt“.
Zwischendurch wird eine pathetische und seltsam allgemein gehaltene Frage gestellt: „Wen haben wir so verraten, / Dass wir keine Vergebung erlangen?“
Am Ende steht eine fast schon optimistische Winteridylle: „Durch Schnee und Wind / Kehrt jemand heim.“ Fragt sich nur, wer hier zurückkommt und was in der Zwischenzeit geschehen ist. Maria Stepanova, die sich als Chronistin ihrer Zeit versteht und die in kurzer Taktung neue Texte veröffentlicht, wird sich damit gewiss in ihren nächsten Bänden befassen.
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