Grab des Schriftstellers Marcel Proust auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Zoonar | edpics)

Literatur

Die Kraft der Erinnerung – Zum 100. Todestag von Marcel Proust

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Vor 100 Jahren, am 18. November 1922, starb Marcel Proust. Sein siebenbändiger Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt als Schlüsselwerk für die Romanliteratur des 20. Jahrhunderts.

Wie aus einem Moment der Erinnerung tausende Seiten Roman werden

„In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.“ („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, erschienen bei Suhrkamp)

Es ist dieser Moment, der bei Ich-Erzähler Marcel den Motor der Erinnerung anspringen lässt. Der Geschmack eines in Lindenblütentee getauchten Gebäcks, der berühmten Madeleine, katapultiert den Ich-Erzähler in seine Kindheit zurück, als ihm seine Tante Léonie eben dieses in Tee getauchte Gebäck gereicht hatte.

Aus diesem Moment entwickelt Marcel Proust seinen siebenbändigen, über viertausend Seiten langen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Er gilt als Schlüsselwerk für die Romanliteratur des 20. Jahrhunderts.

Porträt zum 100. Todestag Marcel Proust – Meister der literarischen Moderne

In seinem Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nimmt Marcel Proust uns mit auf eine Reise des Sich-Erinnerns. Ihn zu lesen heißt, langsam zu werden, genau hinzusehen, Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten.

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„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen so rasch zu, dass keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein ...“

So beginnt „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Im Zentrum steht der Erzähler Marcel, der im Lauf des Romans erwachsen wird, seine Homosexualität entdeckt, unglücklich liebt und seine Zeit in Salons verbringt. Der Zyklus handelt von Gefühlen, Erinnerungen und Wahrnehmungen, Literatur, Kunst und Musik, von Architektur, Psychologie, Philosophie und vielem mehr – ein über 4.000-seitiges, kaum auszumessendes Werk in sieben Bänden.

Grab des Schriftstellers Marcel Proust auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Zoonar | edpics)
Grab des Schriftstellers Marcel Proust auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise

Marcel Proust von der verlorenen zur wiedergefundenen Zeit

Der letzte Band des Werkes heißt jedoch „Die wiedergefundene Zeit“. Es ist die Zeit, in der die Hauptfigur Marcel zu sich selbst kommt. Er wird darin zum Schriftsteller und ahnt, dass Kunst ein Widerstand gegen die Verwerfungen des Lebens und gegen den Tod sein kann:

„Könnte nicht die Kunst uns in die Wirklichkeit und ins Leben hinein gelangen lassen, indem sie gegen das alltägliche Wirken des Todes angeht?“

Proust bejaht diese Frage. Und seine Texte zu lesen heißt, langsam zu werden, genau hinzusehen, Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten – gerade in einer Zeit, in der sich Meldungen und Meinungen überschlagen.

Literaturkritiker Denis Scheck über „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“:

„Es wäre ein Irrtum zu glauben, wir kämen schon als Menschen zur Welt. Unsere Aufgabe ist vielmehr, uns zu solchen zu entwickeln, indem wir unsere Erlebnisfähigkeit trainieren, ein Wertesystem entwickeln, uns einen moralischen Kompass zulegen. Doch wie geht das? Zum Beispiel, indem wir Marcel Proust lesen.“

ARD alpha | Klassiker der Weltliteratur | Marcel Proust (5.8.2021)

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