Laurent Binet – Eroberung  (Foto: IMAGO, Rowohlt Verlag; JF PAGA, 2019)

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Laurent Binet – Eroberung

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AUTOR/IN
Max Knieriemen

Laurent Binets neues Buch spielt im 16. Jahrhundert und schreibt die Weltgeschichte um: Christoph Kolumbus' Mission scheitert und die Inka und Azteken erobern stattdessen den europäischen Kontinent. Mit gerade mal 192 Männern und Frauen landet Inkahäuptling Atahualpa in Europa und besiegt den Habsburger-Kaiser V.

Wissbegierig saugt er alles auf, was es über die europäischen „Eingeborenen“ zu lernen gibt, er liest Machiavelli und lernt das komplizierte Machtgefüge der Zeit kennen. Und er bringt den Europäern die Kultur seines Volkes näher.

Laurent Binet arbeitet mit fingierten Quellen und erzählt glaubwürdig und amüsant eine Alternativweltgeschichte in der echte historische Persönlichkeiten, wie Martin Luther oder der Schriftsteller Cervantes, auftreten.

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Binet dreht den historischen Stoff einfach um

Es war das vielleicht größte Husarenstück der Weltgeschichte: Zahlenmäßig heillos unterlegen, mit viel Chupze und etwas Glück haben Francisco Pizarro und seine Conquistadoren innerhalb kürzester Zeit das mächtige Reich der Inka erobert.

"Ich finde es unglaublich, dass 200 Spanier es geschafft haben, ein Imperium von mehreren Millionen Menschen zu erobern", erklärt der Romancier Laurent Binet in einem Internetvideo der Bibliothèque Publique d’ information.

Portraitfoto von Laurent Binet (Foto: Pressestelle, JF PAGA, 2019)
Der Autor Laurent Binet

Sein Ansatz, diesen historischen Stoff umzuarbeiten, ist fast so anmaßend wie Pizarros Vorgehen in Südamerika. In seiner Geschichte sind es nicht die Europäer, die Südamerika erobern. Hier landen die Inka in Spanien und unterjochen den Habsburger-Kaiser Karl V.

Fingierte Quellen bilden die Grundlage der Geschichte

Erzählt wird die Geschichte anhand fingierter Quellen. So zum Beispiel im Hauptteil: Den Atahualpa-Chroniken, benannt nach der Hauptfigur des Romans, dem Inkakönig, Atahualpa.

Der muss in Binets fiktiver Quelle, anders als der echte historische Atahualpa, seine Heimat verlassen, weil er einen Krieg verloren hat. Mit zweihundert Mann schifft er sich nach Lissabon ein. Dort findet er zunächst Unterschlupf in einem Kloster:

Der Bau war von eigenartigen Typen bevölkert: in Braun und Weiß gekleidete Männer, oben auf dem Kopf rasiert, kniend, die Hände aneinander gelegt und die Augen geschlossen, damit beschäftigt, kaum hörbare Laute zu murmeln. Als sie endlich auf die Besucher aufmerksam wurden, stoben sie, mit ihren Sandalen klappernd, in alle Richtungen davon wie aufgescheuchte kleine Cuys und stießen gellende Schreie aus.

Atahualpa zweifelt zwischenzeitlich an seinem Eroberungsvorhaben

Die schreckhaften Eingeborenen dieses rückständigen Kontinents sind seltsam besessen von ihrem „angenagelten Gott“ und haben schlechte Manieren, aber militärisch sind sie durchaus schlagfertig.

Und so muss sich Atahualpa nach seiner ersten Begegnung mit portugiesischen Männern in Rüstungen, erstmal mit viel Wein über das weitere Vorgehen klar werden.

Die folgenden Tage blieb Atahualpa in seiner Schlafkammer und ließ sich viel von dem schwarzen Gebräu bringen. Die Begegnung hatte ihn in eine verstörende Träumerei gestürzt. Er hatte geglaubt, diese Neue Welt zu erobern wie seine Vorfahren den Norden erobert hatten, und nun wurde ihm klar, wie naiv solch ein Plan gewesen war: Man nimmt ein Land nicht mit weniger als zweihundert Mann ein. Ein Narr, wer so etwas dachte.

Das Europa des konfessionellen Zeitalters wird satirisch dargestellt

Die Art und Weise wie Atahualpa das dann doch schafft, ist ein durchaus packendes Heldenepos und gleichzeitig eine gelungene Satire auf das Europa des konfessionellen Zeitalters.

Schon in seinem ersten Roman „HHhH“ hat Binet das Verhältnis von Fiktion und historischen Begebenheiten ausgelotet; anhand der Geschichte des Attentats auf Roland Heydrich in Prag 1942.

In „die siebte Sprachfunktion“, erschienen 2015, hat er das Pariser Intellektuellenleben der 70er und 80er Jahre satirisch portraitiert. Fiktion, basierend auf der Umarbeitung vieler Originalquellen, ausgehend von einem fiktiven Mord am Schriftsteller Roland Barthes.

Binet bleibt nah an historischen Begebenheiten

„Eroberung“ erkundet nun Europa ab 1531 auf ähnliche Art und Weise. Nicht nur die Herrscher der Epoche, auch Größen des Geisteslebens, von Martin Luther bis hin zum Maler El Greco und dem Schriftsteller Cervantes haben ihre Auftritte in dem Roman.

Auffällig ist, wie nah Binet trotz steiler Grundthese an echten historischen Begebenheiten bleibt. Beeindruckend, wie er historische Ikonen zum Leben erweckt:

Drinnen thronte Karl V. auf einem hölzernen Sessel, umgeben von seinen Hofleuten. Er trug einen schwarzen Bart, ein rotes Wams und weiße Strümpfe. Die Besucher waren beeindruckt von seinem krokodilhaften Kinn und seiner Tapirnase. Er saß mit offenem Mund da und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

Atahualpa dient als Projektionsfläche für den Leser

So lebendig die Europäer geschildert werden, so blass und eigenschaftslos bleiben, wahrscheinlich auf Grund der schlechten Quellenlage, die Inka. Bis auf ein paar Landwirtschaftsreformen und religiöse Toleranz haben sie den Europäern wenig Kultur überzustülpen.

Umgekehrt nimmt Atahualpa wissbegierig alles auf, was es vom neuen Kontinent zu lernen gibt. Er liest Machiavelli und lernt die tiefen Risse im europäischen Machtgefüge für sich zu nutzen.

Gerade weil er so wenig eigene Inka-Prägung einbringt, ist Atahualpa eine perfekte Projektionsfläche für den Leser, um durch seine Augen den neuen Kontinent Europa zu erkunden und auch zu unterwerfen.

Binet gelingt es, das Unwahrscheinliche plausibel wirken zu lassen, und dabei geht sein Atahualpa mit noch schlechteren Voraussetzungen ans Werk als der historische Conquistador Pizarro.

Denn er hatte laut dem Evolutionsbiologen Jarred Diamond drei Trümpfe im Ärmel, die den Inka fremd waren: Pferde, Waffen aus Eisen und Pockenviren.

Zwei Prologe eröffnen den Roman

In einem ersten etwa 30-seitigen Prolog lässt der Autor einige Wikinger weiter nach Amerika vordringen als historisch verbürgt. Sie bringen den Inka, was sie in der zweiten Episode brauchen, um Christoph Columbus‘ Männer zurück ins Meer zu werfen.

Beide Prologe sind anhand abgewandelter Originalquellen erzählt: Orientiert an der Vinlandsaga und den Tagebüchern von Christoph Columbus. Beides ist dem Hauptteil, den eigentlichen Atahualpa-Chroniken, vorangestellt.

Der studierte Historiker Binet profitiert von seinen Studienerfahrungen

Mit dieser Herangehensweise folgt der Autor weniger einer dramaturgischen Schriftsteller-Logik, als der logisch-erklärenden eines Historikers:

Ich habe angefangen mit dem Studium der Geschichte, meinen ersten Uni-Abschluss habe ich in Geschichte gemacht, schon mein Vater ist Geschichtslehrer. Ich hatte immer viele Geschichtsbücher zu Hause. Am Anfang hat mich Geschichte mehr interessiert als Literatur und insbesondere hat mich die Arbeit als Historiker mehr interessiert als literarische Analysen.

Seinem Buch ist dieser Zugang jederzeit anzumerken.

„Eroberung“ ist perfekt geeignet für historisch interessierte Leser

„Eroberung“ ist ein packender Abenteuerroman, in Form und Ton nah an der Literatur des 16. Jahrhunderts und dennoch leicht zugänglich für zeitgenössische Leser.

Ein unterhaltsamer und gut recherchierter Querschnitt über Leben und Wirken von Europas Herrschern, Denkern und Künstlern jener Epoche. Wer ein wenig Sinn für Ironie mitbringt und sich für Geschichte interessiert, wird an dem Buch seine Freude haben.

Zeitwort 6.11.1492: Kolumbus entdeckt den Tabak für Europa

Auf Kuba beobachtete Kolumbus „Männer und Frauen, welche ein ausgehöhltes Stück Holz in den Händen hielten und dazu Kräuter, um diese darin zu verrauchen.“

SWR2 Zeitwort SWR2

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Max Knieriemen