SWR2 Buch der Woche am 24.05.2015

Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt

Stand
AUTOR/IN
Pascal Fischer

Burnout und Stress gelten als die Krankheiten einer Welt, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt. Der Autor ist Philosoph und untersucht, warum Medizin und Psychologie mit dem Problem so recht nicht fertig werden: weil es ein kulturelles Phänomen mit langer Geschichte ist. Er untersucht es gründlich und spricht den Einzelnen zwischen den Zeilen frei von der Schuld, so rastlos zu sein. Fänden ein paar Menschen die Muße, dieses in einfacher Sprache geschriebene Buch zu lesen, wäre vielleicht viel gewonnen!

Es ist wirklich zum Zusammenklappen: Politiker mahnen zum Wandel; Sprichwörter warnen uns vorm "Moos ansetzen"; Forscher jagen gehetzt nach Entdeckungen; die Kunst will sich ständig selbst neu erfinden. Karrierecoaches schreien, Stillstand sei der Tod. Dann wieder beschwören Artikel die Gefahren von Stress und Burnout – und machen uns noch nervöser! Ralf Konersmann zeigt eindrucksvoll: Diese Unruhe durchdringt unsere Kultur und scheint nicht nur das despotische Werk von einzelnen politischen Herrschern oder Königen des Geistes.

Die Abendländer nahmen das früh als gottgegeben und unabänderbar hin, es wurde zu ihrem Charakter. Schon Alexander von Humboldt notierte in seinen Reisetagebüchern, im Vergleich zu den gleichmütigen Tropenbewohnern falle es auf, wie hastig jeder Europäer agiere. Weder also scheint unsere Getriebenheit allzu modern, noch plump genetisch, kombiniert Ralf Konersmann. Er findet den Ursprung in der Genesis: "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein" - mit diesen Worten bestraft Jahwe Kain nach dem Brudermord.

Aber Moment – das Abendland hatte doch in der antiken Lehre der Stoa ein Konkurrenzprodukt!? Eines, das den fernöstlichen Meditationslehren in puncto Schicksalsbewältigung in nichts nachstand, seltsamerweise aber vom westlichen New-Age-Boom ignoriert wurde. Doch so selbstbeherrscht der Stoiker im Feuer schmoren können mochte – auch er glaubte fest an den ewigen Wandel der Welt, musste ihn akzeptieren lernen. So behaupten also beide Säulen des Abendlandes, dass die Welt per se unruhig sei. Damit widerspricht Ralf Konersmann einem Beschleunigungstheoretiker wie dem Soziologen Hartmut Rosa, der meint, erst der weggefallene Jenseitsglaube habe uns moderne Menschen zu getriebenen, diesseitigen Erlebnissüchtigen und Arbeitsmaschinen gemacht. Auch den modernen Kapitalismus sieht Konersmann nicht als Hauptschuldigen. Nein: Ein idyllisches Abendland, in das dann die Unruhe einbricht, habe es nie gegeben. Das sei selbst ein Mythos, der Kainserzählung übrigens auffällig ähnlich.

Denn das ist der zweite, aufregende Clou des Buches: Nachzuzeichnen, wie aus dem Unruhefluch ein allseits begrüßter Segen wurde. Obwohl Ralf Konersmann die Unruhe zunächst als fast anonym wirksames Diskursphänomen beschreibt, zeichnet er dann doch die bahnbrechenden Positionen herausgehobener Genies in der Geschichte nach – spannend allzumal: Francis Bacon begreift – revolutionär - die Unruhe als Chance, an der Schöpfung mitzuwirken, um eine noch paradiesischere Welt zu kreieren. Dieser fixe Endpunkt, zunächst als diesseitige, doch fast himmlische Ruhe gedacht, wird sich in der Folge immer mehr verlieren und einem bloßen, fast blinden Voraneilen weichen: Entwicklung, Fortschritt, ständige Aufhebung lauten die Schlagworte von Hegel, Kant oder Schiller; letzterem gerät die Ruhe des Paradieses zur öden Langeweile, die den Menschen zur Sünde zwang, um zu einem Wesen voller Freiheit und Kultur zu werden. Immer allerdings scheint die Unruhe-Thematik implizit zu sein. Erst bei Marx wird sie explizit:

Eine klammheimliche ironische Freude beschert die Begriffsgeschichte uns hier: Jedem neoliberalem Reformstau-Stürmer sollte klar sein, dass er die Sprachbilder seiner Fortschrittstrunkenheit Marx verdankt. Und wir alle begreifen: Medizin und Psychologie liefern mit „Burnout“ und „Stress“ sehr junge Interpretationen des sehr alten Phänomens Unruhe. Die heutigen Gegengifte, die neumodisch-technischen Metaphern vom „Abschalten“, reichen an die älteren Bilder von Kains Verstoßung in die Rastlosigkeit nicht heran, weil wir selbst beim „Downshiften“ nach dem Hochschalten schielen, um uns weiterzubilden und weiterzuackern und uns weiter zu wandeln. Die geschichtlich tiefere Triebkraft bekommen biologistische Theorien somit nicht in den Blick, sie kurieren Symptome. Gewiss wollte Ralf Konersmann kein Selbsthilfebüchlein verfassen. Seltsamerweise erzeugt das Buch dann doch so etwas wie Erleichterung und Erlösung: Der Autor spricht den Einzelnen zwischen den Zeilen frei von der Schuld, so rastlos zu sein. Fänden ein paar Menschen die Muße, dieses in einfacher Sprache geschriebene Fachbuch zu lesen, wäre viel gewonnen!

Ralf Konersmanns Gegenkonzept bleibt jedoch ein wenig vage: Mit Hölderlins Weisung "So eile denn zufrieden!" möchte er die Unruhe der Welt anerkennen, ihr trotzdem Ruhe abtrotzen in einer permanenten, gelebten Sorge um das Selbst. Das mag verkennen, dass wir nicht nur in Sprachbildern, sondern in einem globalen Wettbewerb leben, den das Abendland der Welt aufgezwungen hat. Trotzdem bleibt dieses Werk ein schönes Beispiel dafür, wie der Philosoph sehr gewinnbringend uns den Blick öffnet für das größere Bild, das den Spezialwissenschaften entgeht.

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Pascal Fischer