Buchkritik

Karl Ove Knausgård – Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit

Stand
AUTOR/IN
Kirsten Voigt

Fünf Ich-Erzähler tragen den im doppelten Sinn fantastischen Roman von Karl Ove Knausgård: „Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“.Tatsächlich geht es um nichts Geringeres als um den alten Menschheits-Traum von Unsterblichkeit und die transhumanistische Vision, die Menschheit könne über die Natur und damit auch den Tod triumphieren.

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Schuld, Schweigen, Sterben

Der Auftakt ist stark: Helge erinnert sich an seine Kindheit, 1977, kurz vor Weihnachten. Er ist elf Jahre alt. Es ist Nacht. Er verlässt das Haus, um noch einmal hinunter zum Bootssteg zu gehen. Da sieht er im Wasser etwas Schwarzes und ein Leuchten. Offensichtlich ist ein Wagen im Schneematsch von der Fahrbahn abgekommen.

Der Junge denkt zunächst daran, Retter zu alarmieren. Dann packt ihn jedoch die Angst. Hat er sich den Unfall vielleicht nur eingebildet? Am anderen Morgen wird klar, dass er nicht phantasiert hat. Noch fünfundreißig Jahre später hat er niemandem davon erzählt. Er weiß, dass er ein Leben hätte retten können.

Schuld, Schweigen, Sterben – das sind nur einige der gewichtigen Themen von Karl Ove Knausgårds bezwingendem Roman „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“. In ihm ruhen die Toten nicht, sondern verfolgen die Lebenden, erscheinen ihnen in Träumen, hinterlassen Spuren, werden in Särge gelegt oder warten in Kühltanks auf ihre Auferstehung.

Sehnsucht nach Unsterblichkeit

In ihm forscht eine Biologin über die Evolution, den Wald, die Kommunikation zwischen Bäumen und wird durch den Genuss von halluzinogenen Pilzen von diesem Projekt durch einen Horror-Trip gründlich abgebracht. 

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ verhandelt die menschheits-alte und ewig junge Sehnsucht nach Unsterblichkeit und die Wahnvorstellung der menschlichen Spezies, über die Natur und damit auch über den Tod triumphieren zu können. Knausgård konterkariert diese Vorstellung bildstark, funkelnd, finster und tiefgründig. „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ folgt auf „Der Morgenstern“, den ersten Teil einer auf mehrere Bände angelegten Romanfolge, mit der sich der norwegische Autor entschieden vom autofiktionalen Schreiben ab- und der puren Fiktion zugewandt hat.

Die Romane beziehen sich aufeinander

Man muss den ersten Roman nicht gelesen haben, um den zweiten zu verstehen. Im Vergleich wird allerdings klar: Sie sind strukturell kühn kontrastierend aufeinander bezogen. In „Der Morgenstern“ ließ Knausgård neun Hauptfiguren für zwei Tage im norwegischen Bergen zu Wort kommen. Es erschien ein gleißendes Gestirn am Firmament, und verstörende Veränderungen auf der Erde gingen damit einher.

Den neuen Roman tragen lediglich fünf Stimmen über eine allerdings weitaus größere zeitliche und räumliche Distanz, gut 40 Jahre, hinweg, in denen sich die Schicksale von Menschen in Norwegen und Russland verknüpfen.

Einer von ihnen ist Syvert. Als er 1986 vom Militärdienst in seinen norwegischen Heimatort zurückkehrt, liegt die radioaktive Wolke des in Tschernobyl havarierten Kernkraftwerks über dem Land. Syvert spielt vor allem Fußball, verliebt sich, kümmert sich nur wenig um seine kranke Mutter und den hochbegabten kleinen Bruder. Endlich erhält er eine Anstellung in einem Bestattungsinstitut. Beim Aufräumen findet er Briefe in russischer Sprache, die an seinen bei einem Autounfall umgekommenen Vater adressiert waren. Er erfährt: Sein Vater hatte eine russische Geliebte und diese mit ihm offensichtlich ein Kind.

Transhumanistische Visionen

Um das Jahr 2000 belauschen wir Alevtina, eine Biologin, die an der Universität in Moskau lehrt. In ihrer Vorlesung über Evolution melden sich plötzlich irritierend anti-aufklärerisch argumentierende Studenten zu Wort. Alevtinas Freundin, die Schriftstellerin Vasilisa, beschäftigt sich zur selben Zeit mit dem esoterischen Utopisten Nikolai Fjodorow. Dieser suchte Ende des 19. Jahrhunderts die Menschheit hinter einer extrem abstrusen gemeinsamen Anstrengung zu einen: Dem Projekt, alle Menschen, die jemals die Erde bevölkerten, mit Hilfe modernster naturwissenschaftlicher Verfahren wiederauferstehen zu lassen.

Dieses historisch authentische Hirngespinst schließt Knausgård mit den transhumanistischen Visionen unserer Tage kurz, dem Traum von der tiefgefrorenen Unsterblichkeit 3.0, der in einer armseligen Scheune vor den Toren Moskaus wahr werden soll. Vasilisa kennt das Geheimnis der Tanks. In ihnen schweben tote Körper und abgetrennte Köpfe in Erwartung ihrer Auferstehung.

Mehr als 1000 Seiten

Vasilisa assoziiert jenes Zitat der russischen Dichterin Marina Zwetajewa, aus dem der Titel des Romans hervorgeht: „Wie man den Wolf auch füttert, er schaut immer zum Wald. Wir alle sind Wölfe des Urwalds Ewigkeit.“ Das will heißen – ganz gleich wie unsere Leben verlaufen, wie satt wir darin werden, wir gieren nach Unsterblichkeit.

Jahre später treffen sich die Halbgeschwister – Syvert und Alevtina – tatsächlich – in Moskau, unter widrigen Umständen und jenem Morgenstern, der Unbegreifliches auszulösen scheint.

Knausgård nimmt sich erneut ausdauernd mehr als 1000 Seiten Zeit, um seine Charaktere nuanciert und glaubwürdig zu entwickeln. Man geht mit ihnen über diese Marathon-Strecke, an der Rilke, Dostojewski, Tolstoi, Pasternak, Zwetajewa und Aitmatow geistesgeschichtlich Spalier stehen, alles andere als erschöpft.

Momente erkenntnisstiftender emotionaler Erhellung

Vielmehr faszinieren die Bannkraft und Komplexität von Knausgårds Schreiben, sein Raffinement. Er verknüpft Einzel-Schicksale mit nichts weniger als erzählerisch und essayistisch reflektierten Menschheitsfragen. Und er setzt auf rationale Durchdringung – so überraschend dies angesichts seines Umgangs mit dem Fantastischen, dem einbrechenden Unheimlichen und im Blick auf die zahlreichen obskuren und tief befremdenden Irrationalismen erscheinen mag, die er aus der russischen Philosophiegeschichte zu Tage fördert.

Er spielt mit Andeutungen, Lauerndem und erzeugt Spannung, geschärftes Wahrnehmen, Nachdenken und das, was bedeutende Literatur vermag: Momente erkenntnisstiftender emotionaler Erhellung. Zum Beispiel dann, wenn beim Aufgehen des gigantischen Sterns eine sublime Differenz aufscheint zwischen der Möglichkeit, individuelles Leben zu gestalten, und der Tatsache, dass wir einer unermesslichen, kosmischen Totalität schutzlos ausgeliefert sind.

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Kirsten Voigt