Buchkritik

Karl Ove Knausgård – Der Morgenstern

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AUTOR/IN
Jörg Magenau

„Sterben“. „Lieben“. „Leben“. Das waren Titel aus Karl Ove Knausgårds autobiographischen Großprojekt, mit dem der Norweger berühmt wurde. Jetzt zeigt Knausgård, dass er auch aus der Perspektive anderer Figuren schreiben kann. Sein neuer Roman „Morgenstern“ ist ein Wunder: eine plastische, minutiöse philosophische Erkundung aller Tiefen der Existenz und Oberflächen des Alltags, getragen vom Interesse fürs Leben, Lieben und Sterben.

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Neun Figuren treten kapitelweise als Ich-Erzählerinnen und Ich-Erzähler auf im norwegischen Bergen

Wenn ein neuer Stern am Himmel erscheint, dann ist das ein Zeichen. Das glauben jedenfalls die Menschen, denen er leuchtet. Der neue Stern ist ein Wunder, ein Menetekel, eine Drohung – oder einfach nur ein Phänomen, für das es ganz bestimmt eine wissenschaftliche Erklärung gibt.

Es sah aus, als würde der Wald brennen. Aber es war ein Himmelskörper, erkannte ich, denn das Licht stieg höher und löste sich nur einen Augenblick später vom Bergrücken. Es war ein Stern. Und was für ein Stern es war. Ich schaltete den Motor ab und stieg aus, lehnte mich an die Motorhaube und sah zu ihm hoch.
(Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern)

Auch wenn der Stern nichts bedeutet oder nur das, was die Menschen an eigenen Ängsten, Ahnungen, Glauben und Wissen in ihn hineinlegen, hat er doch eine literarische Funktion: Er verbindet die neun Figuren, die da kapitelweise als Ich-Erzählerinnen und Ich-Erzähler in Karl Ove Knausgårds Heimat auftreten, im norwegischen Bergen.

Es ist, als ob Knausgård alle Gewissheiten erschüttern möchte

Auch wenn der Stern kein Zeichen ist – denn das würde doch wohl voraussetzen, dass da etwas ist, das Zeichen geben will, ein Gott oder irgendein planetarisches Winken – geschehen in diesem hitzesatten Sommer merkwürdige Dinge: Massen von Krebsen bevölkern die Straße. Die Fische im Fjord vermehren sich bedrohlich. Ein Dachs verirrt sich ins Wohnzimmer. Ein zahmer Hirsch taucht auf, ein Fuchs und schwarze Vögel im Wald, die merkwürdige Laute ausstoßen.

Auch die Menschen spielen verrückt, versäumen den Schlaf und geraten in Zustände zwischen Wahnsinn und Wahrhaftigkeit. Es ist, als ob Knausgård alle Gewissheiten erschüttern möchte. So schreibt es dann auch Egil, ein erfolgloser Schriftsteller, in einem Essay über den Tod und die Toten, mit dem dieser grandiose Roman endet.

Gespenster. Untote. Himmel und Hölle. Oh, diesen Vorstellungen haftet etwas so Ekelhaftes an, eine Art dumme und blinde Verzweiflung. Wir wissen, dass es nicht stimmt. Denn die Grenze zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen ist fast so absolut wie die zwischen Leben und Tod. Die rationale Betrachtungsweise stößt alles ab, was nicht rational ist, kann es nicht in sich aufnehmen, wodurch das, was nicht rational ist, für das Rationale einfach nicht existiert.
(Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern)

Die Figuren geben detailliert Auskunft über das Kleinklein ihres Alltags und über all ihre Sorgen

Zwei Tage lässt Knausgård auf knapp 900 Romanseiten verstreichen, minutiös erlebt von seinen Figuren, die über das Kleinklein ihres Alltags ebenso detailliert Auskunft geben wie über all ihre Sorgen, über kluge und dumme Gedanken. Da ist der Literaturprofessor Arne, der den Sommer mit seinen Kindern auf dem Land verbringt und mit seiner psychotischen Frau klarkommen muss, die eine Katze köpft und schließlich nur noch zwei, für das Romangeschehen durchaus programmatische Sätze spricht: „Ich weiß es nicht“ und „Bist du sicher?“

Da ist die vor allem von Beerdigungen in Anspruch genommene Pastorin Katherine, die aus ihrer Ehe ausbrechen möchte und die die Theologie nicht als Lehre von Gott begreift, sondern als Lehre davon, „wie wir von Gott sprechen“.

Da ist der ziemlich ekelhafte Macho Jostein, der als Reporter der Provinzzeitung in die Kultur strafversetzt wurde, die er verachtet. Doch nun, nach den bestialischen Morden an den Mitgliedern einer Death-Metal-Band, wittert er eine neue Karriere-Chance als Sensationsjournalist.

Da ist Josteins Frau Turid, die in der Psychiatrie arbeitet und die OP-Schwester Solveig, die es mit Hirntraumata und Organspenden zu tun hat und also an der Grenze von Leben und Tod operiert. Und da ist Arnes Nachbar Egil, der über Leben und Tod nachdenkt, sich darin aber durch die plötzliche Ankunft seines zehnjährigen, ziemlich bockigen Sohnes gestört sieht.

Es geht um Elternschaft und um Kinder, die alleingelassen oder unverstanden sind

Überhaupt geht es in fast allen Kapiteln um Elternschaft und um Kinder, die damit zu tun haben, alleingelassen oder unverstanden zu sein. Die Erwachsenen verstehen ja schon sich selber nicht. Wie könnten sie von der Existenz der Kinder also nicht überfordert sein.

Es ist, als ob Knausgård nach dem sechsbändigen autobiographischen Großprojekt, das ihn berühmt gemacht hat, weil er darin von nichts anderem, als sich selbst und seiner Familie erzählte, nun demonstrieren will, dass er auf dieselbe, nichts auslassende Weise auch aus der Perspektive beliebig vieler anderer Figuren schreiben kann.

Das gelingt ihm ungemein plastisch, realistisch, lebensecht. Auch wenn man nicht unbedingt wissen muss, wie jemand eine Tasse aus dem Schrank nimmt und sich einen Tee aufbrüht oder wie es sich anfühlt, in einen fetttriefenden Burger zu beißen, schafft es Knausgård, auch das Nebensächlichste zum Leuchten zu bringen. Denn es geht ihm immer um die dahinter liegende Frage, was das Leben eigentlich ist.

Ein alle Tiefen der Existenz und Oberflächen des Alltags vermessender philosophischer Roman

Bei allem Unheimlichen, das im Zeichen des Sterns geschieht, und all den ungelösten Rätseln, mit denen er seine Figuren und die Leserschaft konfrontiert, ist das Leben selbst doch wohl das unergründlichste Geheimnis und das Wunder schlechthin. Dem nachzuspüren ist der Antrieb dieses alle Tiefen der Existenz und Oberflächen des Alltags vermessenden philosophischen Romans. Was wissen wir schon über die Entstehung des Lebens in uns?

Das Leben, selbst das allererste, ungeheuer primitive Leben, befreit sich aus der Materie und der Mechanik dieser Materie. Das Leben ist selbst Materie, und das ist das Wunder, dass die Materie sich von der Materie befreit und, mehr oder weniger unabhängig von den Systemen, tun kann, was sie will.
(Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern)

„Der Morgenstern“ ist ein Roman der Wahrheitssuche und der Perspektivverschiebungen. So wie er die Grenze zwischen unbelebter und belebter Materie untersucht, geht es auch um die Grenze zwischen Tier und Mensch. Nicht die Fähigkeit zu denken macht für Knausgård den Unterschied, sondern das Bewusstsein von sich selbst, das Wissen um sich. Der Mensch ist nicht einfach nur ein Subjekt, das die Welt betrachtet, sondern etwas Offenes, das Welt aufnimmt, das von ihr geformt wird und sich seine Welt erschafft, indem die Grenzen zwischen Innen und Außen, Wahrnehmung und Vorstellung, ständig in Bewegung sind.

„Der Morgenstern“ ist ein Roman-Wunder, 900 Seiten ohne auch nur eine Sekunde langweilig zu sein

So gibt es auch keine Grenze zwischen dem Autor und seinen Figuren: Er ist sie alle, der fiese Journalist genauso wie der sensible Denker und die Theologin. Im Denken ist jedes Wunder möglich. Im Schreiben erst recht. „Der Morgenstern“ ist ein Roman-Wunder, das sich über 900 Seiten erstreckt, ohne auch nur eine Sekunde langweilig zu sein. Langeweile oder Müdigkeit ist ja ein Teil des Lebens. Knausgård erzählt sie mit, denn vielleicht entstehen daraus die besten Einsichten. Aber dann ist Langeweile eben nicht mehr langweilig.

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Jörg Magenau