Buchkritik

Judith Hermann - Daheim

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Mit „Daheim“ hat Judith Hermann einen im literarischen Sinne des Wortes zauberhaften Roman über einen Neuanfang in der ländlichen Provinz vorgelegt.

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Die Ich-Erählerin trifft einen „Zauberer“ - oder ist es ein Psychopath?

Am Anfang steht ein alter Zaubertrick, der die namenlose Erzählerin ein Leben lang verfolgen soll: Gerade Mal zwanzig ist sie, arbeitet in einer Zigarettenfabrik und verbringt die freie Zeit rauchend auf ihrem Balkon.

An einem Abend trifft sie an der Kasse der gegenüberliegenden Tankstelle einen seltsamen Mann im Anzug und schlohweißen Haaren, der sich als Zauberer vorstellt und sie ohne Umschweife fragt, ob sie ihm nicht beim alten Trick mit der zersägten Frau assistieren wolle. Sie dürfe gerne mal bei ihm zur Probe vorbeikommen.

Wird beim Trick mit der zersägten Frau Blut spritzen?

Es scheint, als wolle Judith Hermann auf den ersten Seiten ihres neuen Romans „Daheim“ eine vergangene Zeit beschwören, in der ein Zuhause weniger ein Ort als ein Gefühl der Sorglosigkeit war. Der Zauberer trägt Schuhe aus Schlangenleder, wirkt aber ansonsten bewusst unverdächtig. Ein gut getarnter Psychopath, möchte man meinen, was die Angesprochene aber nicht davon abhält, den Zauberer und dessen Frau im karg möblierten Bungalow zu besuchen. Wo dann auch sofort die Kistenprobe beginnt.

„Ich stieg in die Kiste, legte mich hin und schon den Kopf durch die Öffnung. Das zerknautschte Kissen war erstaunlich bequem. Wer hatte darauf gelegen? Ich schob mit den Füßen die Attrappen aus der Kiste raus. Er klappte die Kiste zu. Ich zog die Beine an und riss mir einen Splitter ins Knie.  Die Kiste wackelte, mir war heiß. Seine Frau beobachtete uns genau. Sie blinzelte wie ein Rabe.“
(Aus Judith Hermann: Daheim)

Fehlt nur noch, dass der Trick doch keiner ist und viel Blut spritzt. Was als mögliches Ende einer Short Story aufscheint, ist hier allerdings der erzählerische Auftakt, den Judith Hermann auch im selbst eingelesenen Hörbuch bewusst zurückhaltend eingelesen hat: Sie nutzt die unheimliche Episode geschickt für die Gesamtkomposition des Romans, ohne dass es zunächst erkennbar wäre.

In der Kiste wird doch etwas zerteilt „nicht körperlich, eher Kopf. Vielleicht im Herzen“

Denn statt mit dem etwas biederen Zauberpaar nach der überlebten Kistennummer auf Kreuzfahrt-Tournee zu gehen, tritt die Erzählerin eine andere Reise an, um zusammenzufügen, was in der engen Kiste eben doch zerteilt worden war, „nicht körperlich, eher Kopf. Vielleicht im Herzen“.

Sie verlässt die Zigarettenfabrik, lernt Otis kennen, heiratet ihn, bringt Tochter Ann auf die Welt, trennt sich wieder und sucht am Rande eines norddeutschen Küstendorfes die Einsamkeit und sich selbst.

Es wird eine Weile dauern, bis aus der Fremde ein neues Zuhause wird. Bruder Sascha betreibt in dem namenlosen Ort ein Strandlokal, und auch er scheint ein Suchender zu sein. Er hat sich auf die vierzig Jahre jüngere Nike eingelassen, die schlechte Zähne hat und von den Eltern misshandelt wurde. Die beiden rasen ins Unglück, mit Heimatgefühlen kann Sascha wenig anfangen.  

„Nach Hause, sagt mein Bruder gedehnt. Nach Hause. Wie das klingt. (…) Fühlst du dich hier zu Hause oder was. Draußen meine ich. In diesem Haus am Polder. Ich sage, und was wäre wenn.“
(Aus Judith Hermann: Daheim)

Judith Hermann erzählt von den Zumutungen des Ländlichen im ländlichen Daheim

Wie Judith Hermann von einem ländlichen Daheim erzählt, ohne die Zumutungen des Ländlichen auszulassen, gehört zu den Stärken dieses virtuosen Romans. Denn die Frau, die sich in der Einsamkeit schon bald vor Geräuschen im Haus fürchtet, die möglicherweise von einem Marder stammen, muss sich den Einheimischen anvertrauen, die völlig anders gestrickt sind als die ehemalige Städterin.

Dabei geht es weniger um das Verhältnis von Urbanität und Provinz, sondern um die Frage, wie sich radikal individualisierte Menschen begegnen, wie sie Gemeinsamkeiten bei all den Differenzen finden, sich sozialisieren, ohne ihre Eigenheiten aufzugeben.

Arilds Schlafzimmer - „ich habe das Gefühl, außer ihm bin ich die Erste, die es betritt.“

Zwei weitere Figuren tragen zum Gelingen des Romans bei: Da ist zum einen Mimi, die nach drei gescheiterten Ehen wieder leben möchte, „wo sie herkam“ und es liebt, nackt im brackigen Hafenwasser zu schwimmen.

Über Mimi lernt die Erzählerin den Bauer Arild kennen, ein Mann, der nicht nur zighundert Schweine im Stall stehen hat, sondern auch in der Lage ist, eine Marderfalle aufzustellen. Behutsam nähern sich die grundverschiedenen Charaktere, die Sehnsuchtsreisende und der zupackende Mann, der sein Dorf nie verlassen hat.

Als Arild ihr ein Tiefkühlkost-Dinner mit Fertigschnitzel und verkochten Kartoffeln bereitet, wäre das ein passender Anlass, um wieder aufzubrechen. Aber die mittlerweile 47-jährige Erzählerin entscheidet, dieses Herz der Finsternis zu erkunden.

„Arilds Schlafzimmer. Die Jalousien sind heruntergelassen, das Zimmer ist abgedichtet und geschlossen, ein Zentrum, eine Zentrale zur Durchsetzung eines komplizierten und persönlichen Systems. Ein Zimmer, in dem einer wie Arild sich vor der Welt in Sicherheit bringt, und ich habe das Gefühl, außer ihm bin ich die Erste, die es betritt.“
(Aus Judith Hermann: Daheim)

Neben düsteren Passagen gibt es heitere, gar lustige Szenen

Judith Hermanns zweiter Roman setzt sich deutlich ab von der Prosa, die sie bislang veröffentlicht hat. Die zentralen Bilder und Metaphern werden maßvoll und damit wirkungsmächtig gesetzt. Statt wie sonst ein schwermütiges Raunen zu kultivieren, setzt ihre Prosa jetzt auf unterschiedliche Tonfälle. Neben düsteren Passagen gibt es heitere, gar lustige Szenen. Über Arild heißt es an einer Stelle:

„Er hatte eine Taschenlampe dabei und einen Vorschlaghammer. Ich fand ihn unwiderstehlich.“
(Aus Judith Hermann: Daheim)

Die geheimnisvollste Figur in diesem vielschichtigen Roman aber bleibt Exmann Otis

Die Geschichte ist sowohl realistisch als auch allegorisch zu lesen: Wir alle leben in irgendwelchen Kisten, hocken vor oder in Fallen des Lebens, das durch merkwürdige Erfahrungen zersägt zu werden droht. Die Literatur selbst ist eine große Zauberkiste, die Erinnerungen erst auseinandernimmt, um dann wieder etwas Neues entstehen zu lassen.

„Daheim“ ist ein Familienroman, der mit vielen Vorstellungen von Familie aufräumt; es handelt sich aber auch um die Suche nach einer neuen Heimat, die eine Figur an den Rand des Landes und an die Grenze ihrer unsicheren Identität führt.

Die geheimnisvollste Figur in diesem vielschichtigen Roman aber bleibt Exmann Otis, der seiner großen Liebe auch nach der Trennung regelmäßig und ausführlich schreibt.

Schließlich kann die Ich-Erzählerin „Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte“ hinter sich lassen

Schon in Ehezeiten lebten die beiden nebeneinander in zwei verschiedenen Wohnungen, auch weil seine Behausung eine Art „Lager, ein eigenartiges und versponnenes Archiv“ ist. Otis sammelt alles und kann nichts loslassen. Er hat ein phänomenales Gedächtnis, weiß nicht nur, wo was in seiner Bude liegt, er korrigiert auch die Erinnerungen seiner ehemaligen Frau, die schon mal die Daten und dazugehörenden Erlebnisse durcheinanderbringt.

Otis lebt in der Erwartung, die Welt werde bald untergehen. Die Angst vor dem Tod ist in „Daheim“ ständig präsent, und als Otis schließlich doch sein Lager der schmerzhaften Absicherung auflöst, als die weltreisende Tochter sich nicht nur mit Geodaten zu ihrem Aufenthaltsort, sondern auch mal telefonisch meldet, kann die melancholische Mutter endlich die „Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte“, hinter sich lassen und noch mal neu anfangen.

Ein im literarischen Sinne des Wortes zauberhafter Roman.

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Carsten Otte