Buchkritik

José Luis González Macías – Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt

Stand
AUTOR/IN
Holger Heimann

Der „Kleine Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ des Spaniers José Luis González Macías führt zu 36 Leuchttürmen und rund um den ganzen Erdball. Macías hat erstaunliche Geschichten zusammengetragen. Er erzählt vom Reiz der Abgeschiedenheit und von existenzieller Verlassenheit. Ein ausnehmend schön gestaltetes Buch, das Lust aufs Reisen macht.

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Als Orientierung für Seeleute werden sie dank moderner Kommunikationstechnologien immer weniger gebraucht. Und auch Leuchtturmwärter gibt es kaum noch, da die Leuchtfeuer längst automatisiert betrieben werden. Trotzdem haben Leuchttürme eine seltsame Anziehungskraft. Für die einen verkörpern die grazilen Bauwerke den Reiz abgelegener Ruhe, für die anderen stehen sie für eine existenzielle Verlassenheit und eine Angst einflößende Leere.

Nur gleichgültig lassen sie keinen. Der spanische Grafikdesigner und Autor José Luis González Macías wollte wissen, wie es Leuchtturmwärtern auf ihrem abgelegenen Posten ergangen ist. Der Mann, der sich selbst als ausgemachte Landratte bezeichnet, hat zwei Jahre lang recherchiert und Geschichten von Menschen und Leuchttürmen rund um den Erdball zusammengetragen.

Von einer kleinen Insel im äußersten Süden Patagoniens bis ins fernöstliche russische Sachalin, von Alaska bis Neuseeland führt der ausnehmend schön gestaltete Atlas. Es empfiehlt sich, dieses Buch nicht in einem Zug zu lesen und zu bestaunen, sondern mal hier und mal da aufzublättern und sich so nach und nach zu insgesamt 36 Leuchttürmen führen zu lassen.

Man stößt dabei etwa auf einen Leuchtturm, der aufgrund von Sedimentablagerungen so weit ins Innere einer katalanischen Insel wanderte, dass die Wellen von seinem Fuß aus nicht mehr zu sehen waren. Als sich die anbrandenden Wellen Jahre später das Land zurückholten, wanderte der Leuchtturm ins Meer und wurde schließlich von den Wassermassen begraben.

Nicht die Bauwerke, die Macías mit liebevoller Präzision ins Bild gesetzt hat, stehen jedoch im Zentrum der meisten Geschichten, sondern die Menschen, die dort lebten. Manche wurden verrückt vor Einsamkeit, andere genossen die Abgeschiedenheit.

Der Leuchtturmwärter John Cook, der auf einer windumtosten tasmanischen Insel Dienst tat, wollte dort auch begraben werden. In seinen Memoiren hielt er fest, was ihn so faszinierte:

„Ich liebte das Leben auf der Insel, weil ich wusste, dass mein Körper lebendiger war als die auf dem Festland. Die Leute fragten, wie wir die Einsamkeit und die Langeweile ertragen, aber die Sinne wachzuhalten war wirklich stimulierend.“

Im Norden Russlands blieb ein Leuchtturmwärter bis zur Russischen Revolution 1917 im Dienst, obwohl er über die Jahre erblindet war. Ein Untersuchungsbericht kam zu dem Ergebnis:

„Trotz seiner Blindheit widmet sich Bagrentsew hingebungsvoll seiner Aufgabe und beweist großes Geschick bei der Ausübung seines Amts. Er besitzt ein besonderes Gespür für jede Anomalie in der Funktion des Leuchtfeuers und jede Störung an der Rotationsmaschine.“

Macías hat eine große Menge an Informationen zusammengetragen: Er hat technische, geografische und historische Daten notiert sowie Erfahrungsberichte, Erinnerungen und Zeitungsmeldungen ausgewertet, und er hat Romane und Erzählungen gelesen.

So unterschiedliche Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Jules Verne, Edgar Allan Poe und Virginia Woolf haben über Leuchttürme geschrieben. Jules Verne nannte einen seiner Abenteuerromane, der auf einer fernen Insel in Patagonien spielt, „Der Leuchtturm am Ende der Welt“. Macías hat sich von dem Franzosen nicht nur den Titel geborgt. Wie der berühmte Schriftsteller so ist auch der spanische Autor mitnichten zu einer großen Recherchereise aufgebrochen, um die Schauplätze, von denen er berichtet, selbst in Augenschein zu nehmen.

Sein Atlas entstand vielmehr komplett am Schreibtisch. Das muss kein Nachteil sein. Viele der Geschichten, von denen Macías erzählt, haben sich vor langer Zeit zugetragen, einige der einstmals funktionstüchtigen Leuchttürme werden längst nur noch von Seevögeln besucht.

Den erzählerischen Esprit des Romans von Jules Verne haben die knappen Ausführungen von Macías nicht. Oft reißt der Autor die erstaunlichsten Begebenheiten nur an. Vom spurlosen Verschwinden einer ganzen Leuchtturmbesatzung auf den schottischen Hebriden lässt sich einigermaßen befriedigend schlichtweg schwerlich auf einer halben Seite berichten.

Die rätselhaften Vorgänge haben andere – vor Macías – zu Büchern und Filmen inspiriert, die Rockband Genesis machte einen Song daraus. Man mag hin und wieder bedauern, dass sich Macías nicht mehr Raum gegeben hat. Reizvoll ist das Buch allemal. Denn dieser ungewöhnliche Atlas weckt in besonderem Maße Neugier und Reiselust.

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