Jonathan Franzen - Crossroads (Foto: Pressestelle, Rowohlt Verlag | Janet Fine)

Buchkritik

Jonathan Franzen – Crossroads

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AUTOR/IN
Alexander Wasner

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Mehr als 800 Seiten hat das neue Buch von Jonathan Franzen. „Crossroads“. Und dabei geht es auf dreiviertel der Strecke nur um eine Familie und in deren Leben um einen einzigen Tag, den 23. Dezember 1971. Dieser erste Teil heißt Advent, das zweite große Kapitel heißt dann Ostern, man ahnt, es wird christlich, und es wird dramatisch.

Im Mittelpunkt steht ein Pastor und seine Familie

Anfangs steht Russ Hildebrandt im Mittelpunkt. Er ist Pfarrer in Chicago. Seine Gemeinde unterhält eine sehr rege Jugendgruppe, „Crossroads“, benannt nach einem Bluessong, Kreuzwege. Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Russ Hildebrandt ist verheiratet mit Marion. Die Ehe ist allerdings am Nullpunkt angekommen, Russ steckt in der Midlife-Crisis und gräbt Frances an, eine junge Witwe. Marion frisst ihre Schuldgefühle und sehr viel anderes in sich rein, regelmäßig geht sie zur Therapeutin, die sie abwechselnd Knödel und bezahlte Freundin nennt.

Und dann gibt es noch vier Kinder, die sind an diesem Vorweihnachtstag ziemlich heftig unterwegs. Einer macht mitten beim Sex Schluss mit seiner Freundin und verpflichtet sich kurz darauf zum Vietnamkrieg, andere kiffen, besaufen sich, spannen anderen die Partner aus.

Franzen wechselt die Perspektive und nimmt damit alle Figuren ernst

Viele der Ereignisse erfahren wir mehrmals aus verschiedenen Perspektiven. Als Leser wird man richtig durchgeschüttelt, so plausibel schildert Franzen die Motive seiner Figuren. Wer Recht hat, kann man oft nicht entscheiden. Schon am Anfang lesen wir eine bewegende Szene, in der die schon erwähnte junge Witwe Frances mit einem schwarzen Kind ein Bild malen will. Das Kind ist zurückgeblieben. Sie meint es doch nur gut, denkt man. Aber dann kommt die Mutter des Kindes.

„Das ist mein Sohn, kapiert? Mein Sohn.“
Ronnie kniete nach wie vor mit den Buntstiften am Boden und schaukelte hin und her.
„He, he“, sagte Russ.
Die junge Frau fuhr herum. „Bist du der Mann von der?“
„Nein, ich bin der Pastor.“
„Egal, die soll von meinem Jungen wegbleiben, sag ihr das. (…) Die da muss ihren weißen Arsch aus meinem Blickfeld schieben und meinen Jungen in Ruhe lassen.“

Die Mutter zerreißt die Zeichnung und gibt ihrem Kind eine Ohrfeige, es tut sogar beim Lesen weh. Sie hat wahrgenommen, dass irgendwas an Frances‘ Hilfsversuch nicht stimmt. Denn sie setzt sich hinweg über den Wunsch der Mutter, in Ruhe gelassen zu werden. Und Russ wiederum gibt sich die Schuld an dem Konflikt, denn er hat Frances zum Sozialprojekt mitgenommen, weil er mit ihr ins Bett will.

Es war schon schlecht von ihm, eine Frau zu begehren, die nicht seine Frau war, aber auch im Schlechtsein war er schlecht. Was für eine schauderhaft passive Taktik es gewesen war, sie in den Keller mitzunehmen.

Guter Wille trifft auf freien Willen – der Konflikt zieht sich durch Crossroads. Was ist ehrlich? Was ist nur egoistisch?

Der freie Wille und seine Grenzen

Jedes Familienmitglied lernen wir also aus verschiedenen Perspektiven kennen. Man erfährt, wie beeinflusst sie alle sind durch die Taten und das Wesen der anderen. Den kantigen Zorn hat Russ geerbt, sein Vater war auch so. Man erfährt: Sein Sohn Clem ist da nicht anders, nur mit anderen Zielen. Die Gesellschaft, die Gene, die Familie, alle kneten an diesen Figuren herum.

Es spricht schon sehr für Jonathan Franzens große Schreibkunst, dass er in Worte fassen kann, wie und wodurch jede seiner Figuren geprägt und gefangen ist. Das ist das große Thema: Wie frei sind wir, wenn wir gleichzeitig beliebt sein wollen, erfolgreich, respektvoll und aufmerksam und also irgendwas, was man “gut“ nennen könnte.

Die 1970er Jahre: Eine Welt im Wandel

Franzens „Crossroads“ beschreibt die frühen 70er aus dem Blickwinkel der Diskussionen der Gegenwart. Die MeToo-Debatte taucht auf, die Frage nach der Aneignung der Lebensweise der Ureinwohner, die Fragen von Gleichberechtigung und Queerness. Die Welt wandelt sich. Und natürlich kann in dieser Welt nur eine weiße Familie im Mittelpunkt stehen, denn es ist die weiße Mainstreamkultur, deren Wandel der Autor beschreibt.  

Es gibt dazu passend noch ein Motiv, das sich durchzieht durch dieses Buch, und das sind die Rauschmittel. Franzens Figuren saufen, nehmen Drogen, Psychopharmaka. Jeder will weg von da, wo er ist. Aber das Jenseits ist weit weggerückt. Das Wort Bewusstseinserweiterung fällt nicht. In diesem Buch gibt es keine andere, utopische Welt, obwohl die Hippiekultur jener Jahre doch voll davon war.

Ein Roman voller religiöser Anspielungen

Jonathan Franzen lässt seinen Figuren nur einen einzigen Ausweg: Sie müssen im Hier und Jetzt ankommen, Nähe erlauben, müssen zueinanderstehen. Das ist ein sehr christlicher Gedanke. Crossroads ist der erste Teil einer Trilogie, die den Ursprung der Mythologien behandelt.

Das Buch ist voll von christlichen Anspielungen, Themen, Symbolen. Alle sieben Todsünden werden aufgefahren, Neid, Wollust, Trägheit, Völlerei, Hochmut, Stolz, Habgier, es ist die Hölle auf Erden, die hier geschildert wird. Man bemerkt das beim Lesen kaum, das hat nichts Aufgesetztes, zuerst kommt immer das Erlebnis, erst dann, und nur wenn man will, das Nachdenken darüber. Ein riesiger Resonanzraum mit sehr langem Nachhall.

Einer der Söhne, der am Ende, im Verschwinden, die Familie zerlegt und wieder zusammenführt, heißt Perry. Eine Kurzform von Peregrinus, übersetzt: Der Fremde. Bei einem Fest verwickelt er einen Pfarrer und einen Rabbiner in ein Gespräch über Glaube, Liebe, Hoffnung. Er kann einfach nicht lockerlassen. Am Ende wird er rüde weggeschickt und brüllt:

„Egal, was ich tue, immer bin ich es, der im Unrecht ist. Sie sind alle erlöst, aber ich bin anscheinend verdammt. Glauben Sie, es macht mir Spaß, verdammt zu sein?“

Man weiß nicht, ob er als Sohn des Pfarrers, als Drogensüchtiger (oder als literarische Figur?) redet. Jedenfalls ist Erlösung und Verdammnis bei ihm sehr irdisch.

Das alles ist nicht dick aufgetragen. Franzen traut sich an etwas heran, was wir spüren, aber nicht zu fassen bekommen: die Widersprüchlichkeit unseres Lebens. Zwischen Idealen und Krisen taumeln seine Figuren. Bettina Abarbanell hat das Buch außerordentlich gut lesbar übersetzt. Leicht kommt das rüber, trotzdem intensiv, mit einer erheblichen Lust daran, das Innenleben der Figuren für jeden verständlich aufzurollen. So spannend kann das echte Leben sein.

Und als Coda vielleicht noch das: Dieses Buch gelangt ja nun sicher auf die Bestsellerliste, in der Nachbarschaft stehen dort Bücher von Juli Zeh, Sven Regener und Eva Menasse. Alles Bücher, in denen die bürgerliche Gesellschaft ziemlich verunsichert geschildert wird.

Jonathan Franzens Buch ist ein großes bürgerliches Selbstbefragungs- und Selbstvergewisserungsepos. Man kann, man soll und wahrscheinlich wird man es auch nicht vor der letzten Seite aus der Hand legen.

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Alexander Wasner