Buchkritik

John Irving – Der letzte Sessellift

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AUTOR/IN
Theresa Hübner

Adam Brewster wächst mit seiner Mutter, ihrer Partnerin und einem transsexuellen Stiefvater auf. Er will seinen biologischen Vater kennenlernen und reist nach Aspen, dem Ort seiner Zeugung. Irvings vielleicht letzter Roman ist Familiengeschichte, Gesellschafts- und Liebesroman in einem, und dann gibt es auch noch Gespenster. Nichts für „Irving-Anfänger“, für seine Fans ein Fest!

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Es geht auf bekanntes Terrain, schon rein geografisch, zunächst nach Exeter, New Hampshire. Hier wurde auch John Irving geboren, und hier wächst Adam Brewster auf: Ich-Erzähler in „Der letzte Sessellift“. Seine Mutter ist passionierte Skifahrerin, eine hübsche, auffällig kleine Frau, Spitzname: Little Ray, was zum Glück keiner der beiden hervorragenden Übersetzer des Romans mit „kleiner Strahl“ verunstaltet hat.

Little Ray nimmt an einem Skiwettbewerb in Aspen teil, gewinnt zwar keinen Pokal, kommt dafür aber mit Baby Adam im Bauch zurück nach Hause. Erzeuger: unbekannt.

Als meine Mutter ihren Eltern mitteilte, sie sei schwanger, war ich logischerweise noch nicht auf der Welt. Ich kam am 18. Dezember 1941 zur Welt – eine Woche vor Weihnachten. Wie meine ledige Mutter nie müde wurde zu betonen, kam ich zehn Tage zu spät.“

Dass sie ihr Baby ohne Trauschein und ohne Vater bekommt, ist nicht Little Rays einzige unkonventionelle Entscheidung. Sie liebt Molly, eine große, starke Frau, Pistenpflegerin, die beiden bleiben ein Leben lang zusammen, aber weil es in den 40er Jahren der USA nicht unbedingt einfach ist, als lesbisches Paar zu leben, dann auch noch mit Kind, schaut Little Ray sich nach einem Vater für ihren Adam um: ihr „Ein und Alles“, wie sie ihn nennt. Und sie findet ihn, bzw. Adam begegnet seinem zukünftigen Stiefvater beim Schneeschuh laufen:

„Sein Name war Elliot Barlow.

„Mr Barlow ist ein Warmer, wenn ihr mich fragt“, sagte Tante Abigail, dieser Ausdruck war mir unerklärlich. Ich erkannte zwar den verächtlichen Ton in ihrer Stimme, dennoch bildete ich mir ein, sie habe (wie ich) bemerkt, wie warmherzig der kleine Schneeläufer war.“

Der Schneeschuhläufer Elliot Barlow hat ein großes Herz, ist hochgebildet, attraktiv und, ein wichtiger Punkt für Adams Mutter: Er ist klein!

Aber schwul ist Elliot Barlow nicht. Im Laufe des Romans beginnt er immer offener als Frau zu leben, seinem, ihrem wahren Geschlecht. Elliot ist für Adam der beste Stiefvater, bzw. später die beste Stiefmutter, die man sich wünschen kann. Trotzdem will Adam seinen leiblichen Vater kennenlernen, und macht sich nach vielen Jahren auf nach Aspen, dem Ort seiner Zeugung.

Vatersuche, diverse sexuelle Orientierungen, kleine Männer, große Frauen: Wer Irvings frühere Romane kennt, dem kommt so einiges bekannt vor. Da wären auch noch Adams lesbische Cousine Nora und ihre Freundin „Em“, die nicht spricht, dazu zwei stockkonservative, fiese Tanten und diverse Ex-Freundinnen, die alle ein besonderes Handicap haben, eine z.B. leidet unter ständigen Blutungen.

Es sind typische Irving-Charaktere, die sich im letzten Sessellift tummeln, oft leicht überzeichnet, allesamt sehr einprägsam und sehr lebendig - na gut: bis auf die Gespenster, die nur Adam und Little Ray sehen können. Eines von ihnen ist die Erscheinung von Adams verstorbenem Großvater, zu Lebzeiten Lehrer.

„Meine lieben Jungs“, sagte der jugendlich wirkende Englischlehrer zu Molly und mir. Gespenster können nicht sehr gut sehen, dieses hier zumindest nicht. „Zeichensetzung muss nicht kompliziert sein“, versicherte er uns. So jung kannte ich ihn nur von Fotos.“

Ja, Gespenster gibt es auch noch in diesem Roman, und mit dieser bunten Mischung aus lebendigen und toten Charakteren schickt John Irving seine Hauptfigur ins und durchs Leben. Adam wird Schriftsteller, erlebt die tragischen Folgen des Vietnam-Krieges und wie Ronald Reagan in den 80ern die Aidskrise ignoriert, der Tausende, vor allem Homosexuelle, zum Opfer fallen. Auch das typisch Irving: klare politische Statements und ein Plädoyer für Toleranz.

Keine Frage, Irving ist ein begnadeter Erzähler und wirft in diesem - man munkelt, es sei sein letzter Roman - mit Handlung nur so um sich – doch das Ganze bewegt sich auch immer knapp an der Überdosis – es gibt ausführliche Exkurse in Ski– und Filmgeschichte, einige Wiederholungen und viele Längen – etwas mehr Lektorat hätte dem 1088 Seiten - Werk sicher nicht geschadet.

Ebenfalls nicht zurück hält Irving sich beim Thema „Sex“ – es gibt monumentale Orgasmen, einen inzestuösen Kuss und ein skurriles erstes Mal, bei dem Adams Penis fast zu Bruch geht – um nur einige der Höhepunkte zu nennen.

Doch zum Glück weiß John Irving genau, wann es ruhiger werden muss , und an den richtigen Stellen nimmt er sich Zeit für Reflexion und Tiefe. Dann stehen da so simple, aber großartige Sätze, wie dieser hier:

„Der erste Verlust eines geliebten Menschen, der erste Tod von jemandem, der einem nahe steht – ab da fließt die Zeit anders. Früher schien sich über lange Strecken nichts zu ereignen. Doch nach einem Verlust bemerkt man auf einmal die Drehung der Erde. Ständig ist sie in Bewegung, ständig ein Stück voraus. Für den Rest des Lebens weiß man, dass noch mehr Tode kommen – einer nach dem anderen, der eigene eingeschlossen.“

In „Der letzte Sessellift“ lässt John Irving es nochmal richtig krachen. Er rechnet ab mit dem widerlichen Hass gegenüber Homo- und Transsexuellen, er prangert soziale Ungleichheit an und zeigt wo und warum die amerikanische Gesellschaft begann, sich so tief zu spalten.

Er tut dies nicht immer geordnet, oft eher chaotisch: Liebesroman, Familiensaga, Mysterygeschichte, von allem ist was dabei, und wer noch nie etwas vom großen amerikanischen Erzähler John Irving gelesen hat, der sollte vielleicht nicht mit diesem Roman anfangen – sondern sich zum Einstieg an Klassiker wie „Hotel New Hampshire“ oder „Garp und wie er die Welt sah“ halten. Für Irving-Profis aber wird der letzte Sessellift eine unvergessliche Leseparty, zum Heulen schön, randvoll mit Charakteren, die auch dann weiterleben, wenn sie im Roman bereits ihr tragisches Ende gefunden haben.

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Theresa Hübner