SWR2 Buch der Woche am 10.08.2015

Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek

Der Roman Die weite Sargassosee von Jean Rhys ist eines der besten Beispiele dafür, dass Neuübersetzungen Lesevergnügen und Lesegewinn erhöhen können. Was Brigitte Walitzek mit ihrer Übersetzung den Erzählern und Figuren an differenzierten Stimmlagen gibt und wie sie es schafft, die dem Roman unterliegende unheilvolle Atmosphäre zu übersetzen, das zeigt uns die schriftstellerischen Qualitäten von Jean Rhys deutlicher als bisher.

Und so erlebt man auch, dass Rhys' Die weite Sargassosee dem Roman Jane Eyre von Charlotte Brontë durchaus ebenbürtig ist. Denn aus ihm hat Jean Rhys die Figur der "mad lady in the attic" zur Hauptfigur ihres Romans gewählt. So ist große Literatur aus großer Literatur entstanden.

Jean Rhys wurde 1890 in Roseau auf Dominica in der Karibik geboren – als Tochter eines walisischen Vaters und einer kreolischen Mutter. Mit 16 ging sie nach England, schlug sich mit allen möglichen Tätigkeiten durch: als Tänzerin, als Nacktmodell, sie ließ sich von wohlhabenden Männern aushalten, prostituierte sich, sprach in extremer Form dem Alkohol zu, heiratete nicht nur einmal.

In den frühen zwanziger Jahren begann sie mit dem Schreiben, Kurzgeschichten zunächst. Der Schriftsteller und Zeitschriften-Verleger Ford Madox Ford förderte sie, in den folgenden Jahren erschienen die Romane Postures, After leaving Mr. Mackenzie, Voyage in the dark und Good Morning Midnight, die teils autobiographisch gefärbt waren. Nach 1939 Schweigen.

Fast drei Jahrzehnte lang wurde es tatsächlich still um Jean Rhys, bis sie – auch durch die feministische Bewegung – als postkoloniale Autorin wiederentdeckt wurde. Entscheidenden Anteil daran hat ihr 1966 erschienener Roman Wide Sargasso Sea, der ihr späten Ruhm einbrachte. Jean Rhys starb 1979. Die weite Sargassosee ist nun in einer Neuübersetzung im Schöffling Verlag wieder zugänglich.

Manchmal sind es die Randfiguren einer Geschichte, die unsere Aufmerksamkeit erregen können, solche, die uns ein wenig fern stehen, weil der Autor ihnen zu wenig Augenmerk oder Bedeutung schenkt, die fremd bleiben: Sie setzen möglicherweise eine Handlung in Gang, haben aber selbst keinen großen Anteil daran. Es kann dann vorkommen, dass gerade diese im Augenwinkel wahrgenommenen Figuren unsere Fantasie erobern und wir ihnen ein Leben schenken, das der Autor ihnen verweigert hat.

In Charlotte Brontës viktorianischer Gothic Novel Jane Eyre gibt es die "mad lady in the attic", die erste Frau von Edward Rochester, der großen Liebe von Jane Eyre. Man erfährt wenig von ihr: Sie ist eine aus Jamaika stammende Kreolin mit dem Namen Bertha Mason, die Rochester von einer Reise in die Karibik nach England mitbrachte; in ihrem Wahn wird sie von einer Angestellten namens Poole gepflegt, versteckt gehalten auf dem Anwesen von Mr. Rochester. Bei einem vermutlich von ihr selbst verursachten Brand kommt Bertha Mason ums Leben. Was aber hat es mit dieser geheimnisvollen Frau auf sich? Wie kam sie nach England? Was hat ihren Wahnsinn ausgelöst?

Jean Rhys, als Tochter eines walisischen Vaters und einer kreolischen Mutter in der Karibik aufgewachsen, erzählt diese Vorgeschichte in ihrem Roman Die weite Sargassosee. 1966 erschien in England dieses Buch einer damals fast vergessenen Autorin, deren literarische Anfänge in den 1920er Jahren lagen und die jahrzehntelang nichts mehr veröffentlicht hatte. Erst 1980, ein Jahr nach ihrem Tod, kam ihr Hauptwerk unter dem Titel Sargassomeer erstmals auf Deutsch heraus. Es wurde damals als postkoloniale, feministische Fortschreibung des viktorianischen Klassikers von Charlotte Brontë gelesen.

Nun liegt eine Neuübersetzung von Brigitte Walitzek vor, und man kann mit Fug und Recht davon sprechen, dass Die weite Sargassosee inzwischen selbst zu einem Klassiker geworden ist, zu einer hier in der grausam anmutenden, schimmernden Hitze der Karibik spielenden Entsprechung zur moralischen, romantisch-dunklen Geschichte der Jane Eyre.

Es ist eine von solchen Unheimlichkeiten und Undurchschaubarkeiten erfüllte Kindheit: Antoinette wächst bei ihrer verwitweten Mutter auf; die Sklaverei wurde abgeschafft, aber von den Unterdrückten werden die erlittenen Qualen nicht vergessen. Die weiße kreolische Familie lebt verarmt auf Jamaika, ausgegrenzt und wegen ihrer Vergangenheit, als sie zur herrschenden Schicht gehörte, von den schwarzen Dienstboten missfällig beäugt. Nur Christophine, eine mysteriöse alte Schwarze, die Voodoo-Zauber praktiziert, scheint treu zu ihrer Herrin zu stehen.

Antoinette erzählt im ersten Teil des Buchs selbst von dieser Kindheit; wir hören ihre Stimme, die nichts Naives hat und doch nicht alles Geschehende begreifen kann. Zwischen verzweifelten Träumen, staunender Neugier und trostloser Wahrnehmung der Realität changiert die Erzählerin.

Es ist eine unheilvolle Welt. Städte tragen den Namen Massacre, Jungen heißen Desaster. Als ein Engländer namens Mason die attraktive Witwe heiratet, scheint es für die Familie bergauf zu gehen. Aber der Fremde verkennt die Lage und weigert sich, den Ort zu verlassen, obwohl alle Anzeichen darauf hindeuten, dass die schwarze Bevölkerung das herrschaftliche Treiben auf dem Gut nicht dulden wird. In einer dramatischen Szene werden die Masons von ihrem Hof vertrieben, das Gebäude brennt nieder, wie ein Symbol, ein Menetekel stürzt der Papagei von Antoinettes Mutter brennend vom Dach, ihr behinderter Bruder überlebt diese Nacht nicht.

Alles verändert sich: Man kehrt nicht mehr zurück, die Mutter gleitet in geistige Umnachtung, Antoinette selbst wird in ein Nonnen-Internat gesteckt, von wo sie eines Tages von ihrem Stiefvater abgeholt wird. Der möchte sie mit einem jungen Engländer verheiraten. Bei Jean Rhys trägt er zwar keinen Namen, aber es ist nicht zu verkennen, dass es sich dabei um Edward Rochester handelt – jenen Rochester aus Brontës Jane Eyre.

Der zweite Teil des Romans wird aus seiner Perspektive erzählt: Die Heirat geht schnell vonstatten, bringt durchaus auch Wohlstand für den jungen Mann mit sich. Die Fremdheit, die er in diesem ihm fremden Land empfindet, ist in jeder Zeile spürbar. Und bald schon schleichen sich Zweifel an der Heirat und der Zuverlässigkeit seiner Frau in seine Gedanken. Verleumdungen und Andeutungen tun ihr übriges; ihre kreolische Herkunft schürt Bedenken, in hellem Licht betrachtet erscheint ihm ihre Schönheit wie etwas Teuflisches; er, von Moralvorstellungen und englischer Etikette bestimmt, fühlt sich bedrängt vom Verführerischen und Sexuellen seiner Frau, dem Klima und den Umständen, unter denen er jetzt leben soll.

Das Glück der Frischverheirateten verglüht unter der sengenden Sonne der Karibik fast ebenso schnell wie es gekommen ist. Die Entfremdung wird immer stärker, und Christophine, die noch immer an der Seite von Antoinette verharrt, spielt eine undurchsichtige Rolle. Durch die Augen Rochesters sehen wir die Liebende Antoinette endgültig zerbrechen. Sie zerfällt förmlich, ausgebrannt und verstoßen wie einst ihre Mutter. Das Paar, das keines mehr ist, verlässt Jamaika und kehrt zurück in die Alte Welt:

Der dritte Teil des Buches, und hier fließen Die weite Sargassosee und Jane Eyre zusammen, spielt auf jenem klaustrophobisch erscheinenden Dachboden – in ihrem englischen Gefängnis. Antoinette, die ihr Mann Rochester inzwischen Bertha ruft, steht sediert und gedemütigt unter der Kuratel ihrer Aufseherin Grace Poole. Das Leben hat ihr mehrere Wunden geschlagen, die sich nicht mehr schließen.

In der gelungenen Neuübersetzung von Brigitte Walitzek, die den Erzählern und Figuren unterschiedliche Stimmlagen geben kann und durch die Sprache schon eine unheilvolle Atmosphäre heraufbeschwört, lesen wir von einer aus den Fugen geratenen Welt: Wer Opfer und Täter ist, kann keineswegs eindeutig benannt werden.

Aberglaube und Vernunft streiten sich in den Protagonisten, wie die Landschaft in ihrer Unberührtheit zugleich etwas Furchteinflößendes annimmt: Kakerlaken, Ameisen, Ratten sind Vorboten eines Unglücks, das nicht notwendig erscheint, aber schicksalhaft. Schönheit und Magie, Sehnsucht und Zerstörung sind die Motive, die das Buch bestimmen – und einen verwirrenden Eindruck hinterlassen. Als hätte das bewegte, verschwenderische, unglückliche Leben der Autorin in Bertha Mason eine Spiegelfigur gefunden. Rhys hat sie von ihrer Dachbodenexistenz als weggesperrte Irre befreit und zum Leben erweckt – zu einem hingebungsvollen und schließlich resignierten Leben.

Die weite Sargassosee ist so mehr als nur die Fußnote zu einem bedeutenden Roman. Aus großer Literatur nämlich kann zuweilen große Literatur entstehen.

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Ulrich Rüdenauer