Jaron Lanier "Delete your accounts"

Internet-Pionier: Lösch dein Facebook-Profil!

Stand

Am 4.6.2018 von Christian Schiffer

Das neue Buch von Internet-Pionier und Friedenspreisträger Jaron Lanier "Zehn Gründe, warum du deine Social Media-Accounts sofort löschen musst" ist eine Abrechnung mit der Datenkrake Facebook. Oft jedoch wirkt Lanier darin selbst nur wie ein Internet-Troll, der mit Internet-Troll-Methoden versucht, vor Internet-Trollen zu warnen. Den Weg zu einem besseren Internet findet er nicht.

Alte Botschaft: Kostenlos im Netz bist nur Du selbst

„Wenn etwas kostenlos ist, dann bist Du das Produkt“: Neben „Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts“ ist das wohl der Powersatz jeder Feuilleton-Debatte zum Thema Facebook. Und Jaron Lanier ist daran nicht ganz unschuldig, denn immerhin prangte „Wenn etwas kostenlos ist, bist Du das Produkt“ 2014 hierzulande als Zitat sogar auf einem seiner Bücher.

Im neuen Buch des Friedenspreisgewinners mit dem überaus social-media-kompatiblen Titel "Zehn Gründe, warum du deine Social Media-Accounts sofort löschen musst" dauert es gerade einmal 35 Seiten, bis der Leser darauf hingewiesen wird, dass, wenn etwas kostenlos ist, er selbst das Produkt ist.

Problem sind kostenlose Social-Media-Angebote

Denn genau das ist laut Lanier das zentrale Problem bei Facebook & Co: Der Virtual Reality-Pionier ist streng genommen kein Internetkritiker. Er mag das Internet, er mag auch Smartphones, und er mag sogar soziale Netzwerke. Aber dass diese Netzwerke umsonst sind und sich über Werbung finanzieren, hat seiner Meinung nach allerlei unschöne Folgen.

Denn bezahlt wird ja trotzdem, nicht mit Geld, aber mit Aufmerksamkeit. Und so werden soziale Netzwerke nach allen Regeln der Verhaltensforschung vor allem darauf getrimmt, uns permanent mit kleinen Dopamin-Stößen zu versorgen, auf dass wir süchtig werden nach Likes, Shares und Herzen.

Mit Social-Media zum „Arschloch“ werden

Das wiederum führt zu schlechter Stimmung, macht uns depressiv, lässt uns, wie er nicht müde wird zu betonen, nach und nach zu Arschlöchern mutieren und sorgt am Ende sogar gar dafür, dass Kinder sterben, weil sich auf Facebook auch Impfgegner zusammenfinden. Helfen tut da nur eines: „Delete your accounts!“, raus aus den sozialen Netzwerken!

Laniers Analyse ist dabei nicht eben neu, aber durchaus treffend. Unter dem Schlagwort „Time well spend“ wird sogar im Silikon Valley längst darüber diskutiert, ob die Zeit, die man auf sozialen Netzwerken verbringt, wirklich einen positiven Mehrwert mit sich bringt.

Das neue Yoga: der komplette Social-Media-Ausstieg

„Digital Detox“ gilt in manchen Kreisen konsequenterweise bereits als das neue Yoga. In Büchern, Podcasts und ja, auch auf Facebook, kursieren Tipps, wie man loskommt vom Smartphone, das heute auch schon mal als „Kokain der Technologie“ bezeichnet wird. Und längst weiß man auch, dass Social-Media in der Tat depressiv macht, einige Netzwerke allerdings mehr als andere.

Anders als in seinen früheren Büchern ficht Lanier hier nicht gerade mit dem Florett. „Arschloch“ dürfte der am häufigsten vorkommende Begriff in dem 200-Seiten-Büchlein sein. Manchmal wirkt Lanier dabei wie ein Internet-Troll, der versucht mit Internet-Troll-Methoden vor Internet-Trollen zu warnen.

Keine Lösungsansätze ohne technisches Gefrickel

Trotzdem oder vielleicht sogar deswegen ist sein Buch lesenswert - auch wenn es bis auf „raus aus den sozialen Netzwerken“ wenig Lösungsansätze beinhaltet.Zumindest keine, die nicht mit viel Gefrickel zu tun haben. Gerne hätte man zum Beispiel gewusst, wie sich der Social-Media-Kritiker eine Regulierung von Facebook und Co. durch die Politik vorstellt.

„Wenn etwas kostenlos ist, bist Du das Produkt“: Stattdessen zieht sich dieser Gedanke durch Laniers Buch, denn der Amerikaner betont, dass er sich sofort für soziale Netzwerke erwärmen könnte, wenn er doch endlich nur dafür zahlen dürfte.

Facebook ohne Datenerhebung - ist das realistisch?

Dabei wirkt es fast etwas naiv zu glauben, die Probleme, die beispielsweise Facebook mit sich bringt, ließen sich einfach dadurch lösen, wenn man einfach einen Fünfer im Monat für die blauen Seiten zahlen würde. So teuer wäre der Dienst dann wohl in Deutschland.

Tatsächlich denkt Facebook über eine Bezahlversion nach. Aber müssten dann nicht trotzdem Daten erhoben werden, um den Newsfeed zu optimieren? Würden Medienhäuser, Influencer und Clickbaiting-Schleudern nicht trotzdem mit harten Bandagen um die Aufmerksamkeit des Nutzers kämpfen?

Erfrischende Lektüre - aber man bleibt ratlos

Wäre es denn gerecht, wenn die einen sich aus der Werbung freikaufen könnten und die anderen nicht? Und nicht zuletzt: Haben Unternehmen, die ihre Produkte für hartes Geld verkaufen, wirklich immer das Beste für ihre Kunden im Sinn?

Angesichts von Zigarettenherstellern, Fastfood-Restaurants oder auch Volkswagen können einem daran schon Zweifel kommen. Und so ist "Zehn Gründe, warum du deine Social-Media-Accounts sofort löschen musst" zwar eine erfrischende Lektüre. Sie lässt einen aber trotzdem ratlos zurück. Dafür kann man darüber umso besser streiten – zum Beispiel auf Facebook.

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SWR