Buchkritik

Ingo Schulze –Tasso im Irrenhaus

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AUTOR/IN
Michael Au

Literaten stehen im Mittelpunkt von Ingo Schulzes neuem Buch „Tasso im Irrenhaus“ . Drei Erzählungen über Seismografen einer Welt, die von jenem Wahnsinn beherrscht scheint, der der Titelgeschichte eingeschrieben ist. Nur: Wer sind die wahren Irren? Sind sie drinnen oder draußen? Diese Frage hat nicht nur Friedrich Dürrenmatt in „Die Physiker“ umgetrieben – sondern jetzt auch Ingo Schulze.

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Künstler zerrissen zwischen Kreativität und konformistischer Gesellschaft

Ingo Schulzes neuer Erzählungsband heißt „Tasso im Irrenhaus“. Aber halt: Von einem neuen Erzählband kann nur bedingt die Rede sein. Die drei Langerzählungen „Das Deutschlandgerät“, „Tasso im Irrenhaus“ und „Die Vorlesung“ sind allesamt bereits vor Jahren erschienen. Für die Buchausgabe hat der Autor sie überarbeitet beziehungsweise umgeschrieben.

Es sind Künstlernovellen, wie sie uns in der Literaturgeschichte seit dem Sturm und Drang begegnen. Oft sind Künstler zwischen Kreativität und konformistischer Gesellschaft zerrissen. Darüber lässt sich bekanntlich gut erzählen.

Der Dissident aus der DDR, der im Westen nie wirklich Fuß fassen konnte

Gehen wir die Texte mal durch. In „Das Deutschlandgerät“ schildert der Erzähler, ein Schriftsteller, seine Beziehung zu einem älteren Kollegen, einem Dissidenten aus der DDR, der im Westen nie wirklich Fuß fassen konnte. Der Erzähler entwickelt über die Jahre hinweg ein ständig wachsendes Interesse an dessen unzugänglicher, rätselhafter Persönlichkeit.

Erst nach dessen Tod erschließt sich diese in Gesprächen mit der Witwe des ehemaligen DDR-Autors, der stets nur mit seinen Initialen B.C. benannt wird. B.C.s Witwe sagt über den Verstorbenen Sätze wie diese:

Er spürte deutlich, welches Verhalten von ihm erwartet wurde und welches Befremden auslöste. Wenn er einen Grund sah, sich über die Vorgänge in der DDR aufzuregen, entsprach er der Erwartung. Da hielten sie ihm ein Mikrofon hin. Wenn er über hiesige Zustände herziehen wollte, wurde das Mikrofon eingepackt. Und man erwartete, dass er genug Feingefühl hatte, um dahinterzukommen, warum das so war.
(Aus: Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus, S. 61)

Es geht in diesem Text, den es zuvor auch schon als Hör- und Schauspiel gab, viel um die Rolle des Schriftstellers. Um die Frage etwa von Opportunismus und Widerständigkeit, um die Bestandskraft von Kunst und Literatur, um Bekenntniszwänge und innere Emigration. Um jene Themen also, die Ingo Schulze seit jeher bewegen.

Delacroixs Gemälde „Tasso im Irrenhaus“ wird zum Katalysator einer Begegnung zweier Intellektueller

Die Auseinandersetzung mit Kultur und Geschichte, mit dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft bestimmt auch die Titelgeschichte „Tasso im Irrenhaus“. Wieder wird ein reales Kunstwerk, Eugène Delacroixs gleichnamiges Gemälde aus dem Jahr 1839, zum Katalysator einer Begegnung zweier Intellektueller in einem Schweizer Museum. Der Ich-Erzähler schaut sich das berühmte Gemälde an, über das er eine Rede halten soll, als ihm ein älterer Herr ein Gespräch aufzwingt.

Dieser ergeht sich in einer Suada über die ihm verhasste Schweiz, das Unrecht auf der Welt und wie sehr es uns alle abstumpfen lässt. Und während der Erzähler sich im Museum in Wortkargheit übt, sucht er kurz darauf lesend und schreibend Schutz vor einer weiteren ungewollten Begegnung. Diesmal auf einem Schiff, auf dem ein zutiefst unsympathischen Zeitgenosse, der Sandfarbene, wie er genannt wird, den Nerven des Erzählers zusetzt.

Der Sandfarbene bringt seinen Fuß sofort wieder in Stellung, und ich füge ein, dass eine Geschichte über die Schweiz – aber das betrifft ja nicht nur die Schweiz -, dass also eine gute Geschichte über den Westen den Genuss schildern muss, das Wohlleben und die Behaglichkeit, und zugleich zu zeigen hat, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen, wie schwarz und tief der Abgrund darunter… schreibe ich, sehe auf und blicke über das grüne Wasser, als mich mein Nachbar mit schweizerischem Zungenschlag anherrscht: „Müssen Sie immerzu was notieren. Notieren und notieren, das macht einen ganz wirr.“
(Aus: Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus, S. 114)

Ahmt die Kunst das Leben nach oder das Leben die Kunst?

Delacroix Gemälde zeigt den italienischen Renaissance-Dichter Torquato Tasso in einer Art Gefängniszelle sitzend, wie er durch die Gitterstäbe hindurch begafft wird. Ahmt die Kunst das Leben nach oder das Leben die Kunst? Jedenfalls wiederholt sich die Figurenkonstellation des Bildes in der Erzählung auf dem Schiff. Dort wird der Autor zum von Irren umstellten Tasso und wir Leserinnen und Leser begreifen, dass man nicht verlangen kann, verstanden zu werden, wie es in der furios erzählten dritten und letzten Erzählung „Die Vorlesung“ heißt.

In der bittet ein todkranker Maler namens Johannes Grützke – ja, der Johannes Grützke - einen Autor, der – zufälligerweise, oder auch nicht – Ingo Schulze heißt, über ein Bild von ihm zu schreiben.

Nicht von ungefähr hat Ingo Schulze diesen Stoff ursprünglich als Dramolett verfasst, denn es wird geredet und gestritten, bis dem Erzähler alle Gewissheiten verloren gehen – über Bildende Kunst und Literatur, aber auch über die Wahrheit, die man nicht wollen könne, weil sie sich meist später erst offenbare, wie Grützke meint. Und überhaupt:

„Moderne Kunst ist Blödsinn, in einer Art rhythmischem Sprechgesang. Wir haben nichts damit zu tun…“, erwiderte der Maler Grützke.
(Aus: Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus, S. 142)

Herrlich, diese Groteske vom Maler und dem Autor. Leichtfüßig erzählt, selbstironisch, voller unerwarteter Wendungen.

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