Ungewöhnliche Körpergefühle auf der Frankfurter Buchmesse
Wer einen Tag lang auf der digitalen Buchmesse unterwegs ist, hat mit einem für Messezeiten eher ungewöhnlichen Körpergefühl zu kämpfen. Weil das Hin- und Herhetzen durch die riesigen Hallen wegfällt, sind Klagen über falsches Schuhwerk garantiert kein Thema. Stattdessen kribbelt es wegen mangelnder Bewegung in den eingeschlafenen Füßen, und im Kopf brummt es unangenehm nach stundenlangen Zoomkonferenzen und Video-Streams.
Die Vielfalt der Themen hingegen kommen mir als digitalen Besucher durchaus vertraut vor: Mal spricht eine stockende Moderatorin über Walgesänge, mal hält eine Booker-Preisträgerin eine anklagende Rede über mangelnde Diversität in Verlagsprogramen. Im Rahmen des „Weltempfangs“, traditionell der Ort für den politischen Dialog auf der Messe, wird der Zerfall Europas beklagt.
Die Buchpreisgewinnerin beantwortet im Stundentakt alle Fragen, die sie schon zehnmal beantwortet hat, und plötzlich geht es um das Guinness Buch der Rekorde. So weit, so messenormal.
Die unmittelbaren Gespräche machen eine Messe aus
Das Problem ist vielmehr die kommunikative Einbahnstraße, das Fehlen von Gesprächen, die nicht medial vermittelt sind, die aber eine Messe erst ausmachen. Der unmittelbare Austausch, ein Dialog auch ohne Mikrofone und Kameras in der Nähe, zufällige Begegnungen, das schöne Moment der Überraschung, das Lachen und Lästern über die skurrilsten Messe-Innovationen – fehlt alles.
Das aufs Digitale reduzierte Programm aber enthält vor allem, was in Radio- und Fernsehprogrammen, in bekannten Videoblogs, Podcasts und Online-Angeboten der Zeitungen bzw. Literaturhäuser ohnehin ausgestrahlt wird oder bereits gesendet wurde.
Digital lässt sich ein breites Publikum nicht fürs Buch begeistern
Die diesjährige Buchmesse könnte sich auch darin erschöpfen, schon bekannte Videos in einer Dauerschleife zu wiederholen. Das Publikum, von dem ohnehin kaum jemand weiß, ob es das virtuelle Angebot annimmt, würde sich bestimmt nicht bei der Messeleitung beschweren. Direktor Jürgen Boos sagte zum Auftakt, die sogenannte „Special Edition“ sei ein Experiment.
Im Nachgang wird es womöglich heißen, das Projekt sei „erfolgreich“ verlaufen. Aber was heißt hier Erfolg? Dass in Zeiten der Pandemie überhaupt irgendetwas mit dem Etikett „Buchmesse“ stattfindet? Vielleicht schon. Doch das reicht nicht. Denn mit diesem Format lässt sich weder Geld verdienen noch ein breites Publikum fürs Buch begeistern.
Leseeindrücke wollen geteilt werden - persönlich, nicht nur im Chat
Das abendliche Veranstaltungsprogramm immerhin wird – unter strengen Hygienebedingungen im Risikogebiet – auch mit Publikum durchgeführt. Die Lesungen erinnern daran, was ein Kulturleben ausmacht, nämlich die physische Begegnung, Momente des Unkalkulierbaren. Diese Erkenntnis ist für Buchmenschen vielleicht etwas skurril, die bekanntlich nicht wenig Zeit mit anregenden Lektüren im stillen Kämmerlein verbringen.
Doch jeder Leseeindruck möchte geteilt werden, und zwar nicht nur im Chat oder in der Online-Konferenz. Besonders deutlich wird das Missverhältnis beim virtuellen Barkeeper, der im Frankfurter Hof auftritt, dem vielleicht wichtigsten Ort der klassischen Messe-Nachtkultur.
Eine Messe im digitalen Format ist weitgehend überflüssig
Statt ins Grand Hotel hineinzuspazieren und mit Leuten aus dem Buchbetrieb frank und frei zu reden, sich auch mal über eine kontroverse Meinung einer Zufallsbekanntschaft zu freuen, gibt es dieses Mal eine Registrierungspflicht und ein moderiertes Gespräch, das zu Werbezwecken aufgezeichnet wird. Da schaltet man den Computer lieber aus, um sich daheim zu betrinken, ganz ohne digitale Überwachung, fernab von einer Messe, deren größter Erfolg darin besteht zu zeigen, dass sie im digitalen Format weitgehend überflüssig ist.