Buchkritik

Hoài Niệm Nguyễn – Mit fünf traf ich meinen Bruder

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AUTOR/IN
Mia Kumlehn

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Eine junge Vietdeutsche, auf der Suche nach Identität. Geboren in Vietnam, aufgewachsen größtenteils in Deutschland und doch nirgends dazugehörig. Über diese Problematik reflektiert Hoài Niệm Nguyễn in ihrem Debüt "Mit fünf traf ich meinen Bruder". Eine persönliche Erzählung über Migration, Familie, und Identität.
Rezension von Mia Kumlehn.

Re:sonar Verlag, 58 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-949048-22-7

Wo komme ich her und wo gehöre ich hin? Das sind die leitenden Fragen, die sich Hoài Niệm Nguyễn in ihrem literarischen Debüt stellt. In einem Puzzle aus kurzen Texten beschäftigt sich die Autorin mit Identitätssuche und Familiengeschichte, Vergangenheit und Zukunft, Vietnam und Deutschland, Fremdsein und Dazugehören.

Die Erzählung ist nicht chronologisch geordnet, sondern folgt den Gedankenströmen einer namenslosen Ich-Erzählerin. In fragmentarischer Form erzählt sie auf nur rund 50 Seiten ihre berührende Lebensgeschichte. Dies ist weitgehend Nguyễns eigene Geschichte.

Hoài Niệm Nguyễn kam 1993 mit ihren Eltern von Vietnam nach Deutschland. Damals war sie fünf Jahre alt. Hier traf sie zum ersten Mal ihren älteren Bruder, der bereits früher geflohen war. Diese Übersiedlung ist das zentrale Ereignis der Erzählung. Auch sehr wichtig sind Nguyễns Vietnam-Reise im Jahr 2014 und verschiedene nicht-datierte Erlebnisse und Gespräche vorranging mit ihrer Familie. Insgesamt bleiben wir im familiären Mikrokosmos der Erzählerin, die glücklicherweise nicht versucht, ihre Erfahrungen zu generalisieren.

Einen Plot gibt es nicht, aber doch ein klares Bedürfnis, die eigene Identität zu finden und zu begreifen. Themen wie Migration, Integration, Trauma, Vergangenheitsbewältigung und Familienkonflikte stehen dabei im Vordergrund. Die Erzählerin ist einerseits auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz in der Welt. Andererseits versucht sie ihre Vergangenheit, die Familiengeschichte und die Migrationserfahrungen zu ordnen und zu verstehen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Emotionen, – die der Erzählerin selbst und die, die sie in anderen vermutet. Die Gefühle schwingen nicht subtil zwischen den Zeilen mit, sondern werden klar benannt und nehmen als Substantive fast eine aktive Rolle ein.

Im Ausdruck von Zuneigung beispielsweise zeigen sich kulturelle Unterschiede: Sie wird von ihren Eltern nicht durch Worte, sondern durch Hilfsbereitschaft gezeigt: Da wird zum Beispiel sehr aufwändig Bánh cuốn, vietnamesische Reisnudelrollen, zubereitet. Früher fand die Erzählerin die Zubereitung lästig, doch heute schätzt sie sie als Moment der Verbundenheit. Man spürt, wie sie ihre vietnamesische Herkunft zunehmend positiv wahrnimmt.

Während auf der Handlungsebene wenig passiert, stechen Aufbau und Genrevielfalt in diesem schmalen Büchlein umso mehr ins Auge. Es gibt essayistische Briefe, teils prosaisch angelegte, aber auch gedichtartige Passagen und schließlich eine historisch-biographische Tabelle. Die Textformen ändern sich mit dem jeweiligen Inhalt: Über Emotionen schreibt Nguyễn oft poetisch, über zwischenmenschliche Beziehungen eher szenisch.

Wichtig ist ihr zum Beispiel eine deutsche Ersatzmutter, die sie als Kind liebevoll umsorgte, da sie sich oft zuhause vernachlässigt fühlte. In einem Gespräch konfrontiert sie ihre Mutter damit. Diese Szenen beleuchten ihr schwieriges Verhältnis zur Mutter.

Auffällig ist auch ein Kapitel über Ausgrenzung. Sprüche wie „Dein asiatischer Look steht dir“ oder „Man hört deinen asiatischen Akzent“, stehen in einer geschickt eingesetzten anderen Schriftart jeweils einzeln pro Seite. Die Leere auf den Seiten und die andersartige Schrift führen die ausgrenzende Wirkung vor Augen.

Während die Formenvielfalt der Texte spannend ist, ist die Sprache in dieser Erzählung relativ gleichbleibend: wenig ausgefeilt, insgesamt nüchtern. Eigentlich ist die Erzählerin auf einer emotionalen Selbst-Suche, was die Sprache aber nicht ausreichend ausdifferenziert.

Nguyễns Geschichte stellt viele Fragen, nicht alle davon werden beantwortet – das ist auch gut so. Nguyễn hat eine kurze Reflexion geschrieben, die einen detaillierten Einblick in die persönlichen Gedanken einer jungen Vietdeutschen bietet.

(Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.)

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Mia Kumlehn