Literatur

„Himmel über Charkiw“: Serhij Zhadan schreibt ein Tagebuch über den Krieg

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Kristine Harthauer

Serhij Zhadan ist Punkmusiker, Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges leistet er humanitäre Hilfe in seiner Heimatstadt Charkiw und berichtet auf Facebook über den Alltag in der umkämpften Region. Jetzt sind seine Posts und Fotos als Buch bei Suhrkamp erschienen. Ein berührendes und wütendes Dokument.

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24. Februar 2022: Charkiw wird aus der Normalität gerissen

Es ist 15:05 Uhr. Serhij Zhadan steht mit den Bandmitgliedern von „Zhadan i Sobaky“ (deutsch: Zhadan und die Hunde) vor dem Ortsschild der Region Charkiw. Es ist der erste Tag des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Sie seien den ganzen Tag unterwegs gewesen. Nun seien sie zu Hause, sagt Zhadan in einer Videobotschaft an seine Follower aus Facebook.

Alle unsere Konzerte werden wir später spielen, nach unserem Sieg, jetzt aber wünschen wir allen, dass sie bleiben, wo sie sind, die Streitkräfte der Ukraine unterstützen, unseren Mitbürgern helfen. Freunde, vergesst nicht: Dies ist ein Vernichtungskrieg und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren.“

Zerstörtes Wohnhaus in Charkiw, Mai 2022 (Foto: IMAGO, Agencia EFE)
Charkiw im Mai 2022: Ein Wohnhaus im Stadtteil Saltvitka ist bei Raketenangriffen stark beschädigt worden.

Serhij Zhadan sammelt Spenden und verteilt Lebensmittel, Kleidung und militärisches Equipment

Serhij Zhadan bleibt, wo er schon immer Zuhause war: In Charkiw, im Osten der Ukraine. Er wird da auch in den kommenden Wochen bleiben, während russische Raketen Hauser zerstören und Menschen töten. Und die ukrainische Armee um jeden Zentimeter ukrainischen Boden kämpft.

Auf Facebook teilt Zhadan Eindrücke von der Front:

Харків далі обстрілюють, не даючи місту цілковито повернутися до спокійного життя. Зрозуміло, що в міста попереду багато...Posted by Сергій Жадан [офіційна сторінка] on Sunday, May 29, 2022

Auch der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan kämpft mit: Nicht mit Waffen, sondern mit seinen Händen: Zhadan sammelt und überbringt humanitäre Hilfsgüter, von Lebensmitteln, Kleidung bis hin zu militärischem Equipment, an die Einwohner und die Soldaten in der Region. Er sammelt Spenden, besucht befreite Ortschaften und gibt Konzerte in der Metro, in der Menschen Schutz suchen.

Unermüdlich ist er unterwegs und teilt dies auf Facebook in seinem digitalen Tagebuch: 

Heute haben wir ein Unternehmen in Charkiw besucht. Zu Kriegsbeginn haben sich in den dortigen Luftschutzbunkern mehr als 400 Menschen versteckt. Jetzt hat sich die Lage beruhigt. Im Luftschutzbunker sind etwa 70 Menschen verblieben. Da sitzt in einem Raum eine Mutter und stillt ihr Baby. Sie sind am 23. Februar aus der Entbindungsstation entlassen worden. Bisher hat das Kind nur den Bunker gesehen.“

 Wütend und fröhlich sind Charkiws Kellerkinder

Die Kinder, die in den Metrogängen leben, besingt Serhij Zhadan in seinem Song „Metro“. Liedtexte, Facebook-Posts und Fotos, das alles versammelt der Band „Himmel über Charkiw“. Ein berührendes und wütendes Dokument, das vom Zusammenhalt erzählt, von einer trügerischen Normalität im Krieg, während der Beschuss weitergeht.

„Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher“ wiederholt Zhadan wie ein Mantra in seinen Einträgen. In einem Krieg, in dem Russland auch ukrainische Denkmäler zerstört, Museen bombardiert und Kunst plündert, sind Zhadans Texte ein kulturelles Aufbäumen gegen die Invasoren:

In meinem Geburtsort haben die Besatzer Graffiti zerstört. Auch ein Gemälde mit einem Gedicht von mir war dabei – sie haben es einfach übertüncht. Was sie tun, ist Entukrainisierung. Sie wollen alles vernichten, was in der Ukraine von der Ukraine zeugt.“

Mit kleinen Botschaften und Musik macht Zhadan auf Facebook Mut:

Ein berührendes und wütendes Dokument, das vom Zusammenhalt erzählt, und von der Unerschütterlichkeit der ukrainischen Bevölkerung

Nie habe er gedacht, jemals so emotional und ideologisch zu schreiben, meint Zhadan im Nachwort. Doch es gehe jetzt nicht um Literatur, sondern um die Wirklichkeit selbst. Über dieser Wirklichkeit hängt der Himmel von Charkiw.

Der Abend ist still, frühlingshaft. Der Himmel hoch und feucht. Ab und zu tröpfelt Regen. Dann hört er auf, und die Luft riecht ganz anrührend nach Staub. Das Geräusch unserer Luftabwehr erinnert an Aprildonner – genauso laut und lebensbejahend.“

Literatur Der ukrainische Autor Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022

Der ukrainische Schriftsteller und Musiker werde für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwende und ihnen unter Einsatz seines Lebens helfe, geehrt, so die Jurybegründung.

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