Hilary Mantel: Spiegel und Licht (Foto: Dumont Buchverlag)

Buch der Woche

Hilary Mantel - Spiegel und Licht

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AUTOR/IN
Julia Schröder

Mit "Spiegel und Licht" beendet Hilary ihre Romantrilogie über Thomas Cromwell, den Berater des Tudorkönigs Henry VIII. Zu Beginn des dritten Bandes ist er auf dem Höhepunkt seiner Macht und geht skrupellos gegen alle Widersacher des Königs vor - bis zu seinem eigenen Abstieg.

Wieder lässt Hilary Mantel ihre Leserinnen jeden Gedankengang, jeden Atemzug des Staatsmannes miterleben, auch seinen letzten. Schon zweimal hat Hilary Mantel den renommierten Booker-Preis gewonnen. Es wird spannend sein zu sehen, ob die ihn ein drittes Mal bekommt.

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Die ersten beiden Teile der Trilogie sind umjubelt

Als vor gut zehn Jahren der dickleibige Roman „Wolf Hall“ erschien, kannten den Namen Hilary Mantel hierzulande nur Eingeweihte. Aber schon als kurz darauf die deutsche Übersetzung „Wölfe“ herauskam, hatte sich das geändert.

Denn unterdessen war die 1952 geborene Autorin für dieses Buch mit dem Booker Prize geehrt worden, der wichtigsten literarischen Auszeichnung Großbritanniens. Die Fortsetzung dieses Romans um den englischen Staatsmann Thomas Cromwell, der rechten Hand des berüchtigten Königs Heinrich VIII., bekam 2012 gleich wieder den Booker.

Autorin Hilary Mantel (Foto: Pressestelle, Anita Corbin)
Autorin Hilary Mantel

Blaupausen für Ränkespiele, Verfassungskrisen, Brexit- und Megxit-Dramen

„Wolf Hall“ wurde verfilmt, Theaterstücke wurden aus den Romanen gemacht, und wer sich fragt, was mit den Briten im Allgemeinen und ihrem Königshaus im Besonderen so los ist, findet hier so etwas wie historische Blaupausen für Ränkespiele, Verfassungskrisen, Brexit- und Megxit-Dramen.

Hilary Mantel hat ihre Leser ein bisschen warten lassen, aber nun ist, praktisch gleichzeitig im Original wie in der deutschen Übersetzung, der dritte und letzte Teil dieser Trilogie erschienen: „Spiegel und Licht“.

Cromwell war zeitweilig sogar so etwas wie ein Freund für König Heinrich VIII.

Wer hoch steigt, kann tief fallen. Das war schon vor 500 Jahren so, als Thomas Cromwell, Sohn eines Hufschmieds, es gegen jede Wahrscheinlichkeit zum „Spindoctor“ Heinrichs VIII. brachte.

Cromwell war der zweitmächtigste Mann in England, Lordsiegelbewahrer mit absoluter Vollmacht in den weltlichen Angelegenheiten und Stellvertreter des Herrschers in Fragen der Kirchenreform, was vor allem bedeutete, Klöster aufzulösen und deren reiche Besitztümer für den König und seine Getreuen einzusacken.

In den ersten beiden Bänden der Trilogie ist Cromwell auch zu so etwas wie einem Freund des Königs geworden. Wenn Könige Freunde hätten. Heinrich VIII. – Henry - hat eher „nützliche Spielgefährten“ auf Zeit.

Der Höhepunkt von Cromwells Macht scheint zunächst erreicht

„Er denkt, das erste Mal, da ich Henry begegnete, waren wir wie Fuchs und Löwe. Sein Anblick ließ mich erzittern. Beim zweiten Mal schlich ich etwas näher und betrachtete ihn genauer. Und was sah ich? Ich sah seine Einsamkeit. Und wie der Fuchs trat ich zum Löwen, sprach mit ihm und sah nicht zurück.“

Zu Beginn des dritten Bandes der Cromwell-Trilogie von Hilary Mantel, „Spiegel und Licht“, scheint Thomas Cromwell auf dem Höhepunkt seiner Macht. Aber er steigt noch höher auf. Bis er schließlich fällt.

Mantel zeichnet Cromwell anders, als er der Nachwelt bislang bekannt ist

Die britische Autorin zeichnet ihren Protagonisten als einfallsreichen Selfmade-Mann und rundum gebildeten Renaissancemenschen, der sich mit allem, was er hat und kann (und das ist viel), in den Dienst seines Herrschers stellt.

Denn Cromwell glaubt, Henry könnte ein guter Regent werden, das Land aufbauen nach den Schrecken der Rosenkriege. Mantels Sicht auf Thomas Cromwell ist durchaus unorthodox.

Der Nachwelt gilt er gemeinhin als mörderischer Gegenspieler des hingerichteten Humanisten Thomas Morus und als sinistrer Strippenzieher, der seinem König half, dessen erste beide Ehefrauen loszuwerden, weil sie ihm keinen männlichen Nachkommen gebären konnten.

Nichts und Niemand kann dem Protagonisten Cromwell und seiner Macht gefährlich werden

Bei der ersten Ehefrau, Katharina von Aragon, bewirkte eine ausdauernde Pendeldiplomatie im Machtdreieck zwischen Kaiser, Papst und französischem König die Annullierung der Ehe.

Die zweite Ehe - mit Anne Boleyn – wurde 1536 vom Schwert des Henkers beendet. In beiden Fällen war es Thomas Cromwell, der das fast Unmögliche erreichte – weil der König es so wollte.

Auch in „Spiegel und Licht“, wie der Vorgänger übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, geht Cromwell skrupellos gegen alles vor, was Henrys dynastisch, politisch, und militärisch prekäre Macht gefährden könnte: Aufständische, Ketzer, Konkurrenten mit älteren Ansprüchen auf den Thron, fremde Mächte und die kleinen Tricks von Hofdamen und Prinzessinnen.

Bei allen Machtbestreben geht es Cromwell vor allem um eine Kirchenreformation

Seine Mittel sind juristische Winkelzüge, ausgefeilte Verhörmethoden, geschickte Kontaktpflege, ein Netz von Hilfskräften, Bestechung, Bespitzelung, Erpressung – und unendlicher Fleiß. Bei all dem lässt Hilary Mantel eins nicht vergessen: dass es Cromwell tatsächlich darum geht, den christlichen Glauben zu erneuern, die Kirche zu reformieren und den Einfluss des Papsttums zurückzudrängen:

„Auch nach Henrys Tod, denkt er, ist unser Werk gesichert. Nach einer Generation wird selbst der Name des Papstes aus dem Gedächtnis gelöscht sein, und niemand wird glauben, dass wir uns vor Holzstücken verbeugt und Gips angebetet haben. Die Engländer werden Gott im hellen Tageslicht sehen und nicht in einer Weihrauchwolke.“

Obwohl man als Leser das Ende der Geschichte kennt, hofft man dennoch auf ein anderes

Bekanntlich kam es anders, aber das kann Cromwell im Roman nicht vorhersehen. Ebenso wenig wie seine Erhebung in den Adelsstand und seinen bald folgenden tiefen Sturz, der ihn 1540, wie so viele seiner Zeitgenossen, den Kopf kostet.

Und der Leser sieht es auch nicht vorher, obwohl er das Ende vom Lied ja kennt. Er bangt mit Cromwell und hofft, es möge vielleicht doch gut für ihn ausgehen – wider besseres Wissen.

Das ist der Kern von Hilary Mantels literarischem Verfahren und unterscheidet ihr Schreiben, so sehr es sich auf historische Zeugnisse stützt, von dem eines Historikers.

Mantel bezieht sich auf historische Hintergründe, verpackt sie jedoch neu

Bei ihrem Versuch, Cromwell als prägende Figur seines Zeitalters sichtbar zu machen, bezieht sie sich auf den Tudor-Experten Geoffrey Elton und seine These vom verdienstvollen Modernisierer Cromwell.

Aber sie macht es so, dass wir Leser das Gefühl haben, im Roman nicht etwas über diesen Mann zu erfahren, sondern immer gleichzeitig mit ihm. Sie bringt ihn uns nahe – ohne den „garstigen Graben“ der Jahrhunderte zu überdecken.

Der Leser erlebt von der ersten Seite an alles aus Cromwells Perspektive

Hilary Mantel bedient sich dafür zweier vergleichsweise einfacher, aber wirksamer Mittel, die verblüffenderweise über ein Werk von insgesamt nicht weniger als 2300 Seiten tragen.

Erstens verwendet sie konsequent das Präsens, abgesehen von Rückblenden. Zweitens erzählt sie alles, wirklich alles aus Cromwells Perspektive, von den ersten Sätzen des ersten Bandes bis zu den letzten des letzten Teils.

Ging es in den ersten beiden Bänden noch um den Aufstieg des Helden, widmet sich der dritte Band dem Fall

Lesend gehen wir mit seinen Augen, seiner Nase, seinen Ohren und Händen durch seine Welt, sein ganzes Leben, seine Träume und Triumphe, Skrupel, Ängste und Erinnerungen - bis Cromwells Herz zu schlagen aufhört.

„Um neun Uhr abends am siebenundzwanzigsten Juli kniet er nieder und betet. Er hatte sich gefragt, wie man seine Toten erkennt, wenn man selbst vor seinen Richter tritt. Und während er seine letzte Nacht durchwacht, erkennt er, wie man sie sieht und wie sie leuchten. Sie sind in einen Funken destilliert, einen Moment. Da ist Luft zwischen ihren Rippen, durch ihr Fleisch bricht Licht, und ihre Knochen sind mit Gottes Gnade verschmolzen.“

Augenblicke wie dieser, in denen die Realität durchscheinend wird und das Jenseits herumgeistert, unterscheiden „Spiegel und Licht“ von den ersten beiden Teilen. In „Wölfe“ wie in „Falken“ hatte Hilary Mantel einen Mann im scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg gezeigt, im dritten Teil wird er zum tragischen Helden, der sieht und zugleich nicht sieht.

Zahlreiche Vorzeichen kündigen das Ende von Cromwells Aufstieg an

Zwar füllen seine überraschende Verhaftung, der anschließende Prozess, die Haft im Tower und die Hinrichtung nur die letzten hundert Seiten des Romans.

Aber von Anfang an, als der Leichnam von Anne Boleyn, die er aufs Schafott geschickt hatte, fortgebracht, ihr Blut aufgewischt wird, mehren sich die Vorzeichen.

Die edelsteinbesetzten Roben aus Samt und Seide, eben noch Verstärker von Macht und Ambition, werden nach Wiederverwendbarkeit taxiert. Heraldische Stickereien offenbaren Kabale, Freundschaftsringe und Bekundungen der Huld verlieren ihre Bedeutung.

Cromwells Feinde rotten sich zusammen und werfen ihm Verrat vor

Entsprechend mehren sich die Momente der Introspektion, der Selbstprüfung – worauf es nicht zuletzt zurückzuführen ist, dass dieser dritte Teil fast so umfangreich ist wie die beiden ersten zusammen.

Nachdem Henrys dritte Frau Jane Seymour im Kindbett gestorben ist, wendet sich alles gegen den Strippenzieher. Der König fühlt sich alt, dick und krank, alles zu Recht, und als Cromwell Anna von Kleve als Braut herbeischafft, gefällt sie Henry nicht.

Thomas Cromwells Feinde aus den adeligen Familien rotten sich mit alten Konkurrenten und untreuen Parteigängern zusammen. Ein Verratsvorwurf ist ebenso schnell konstruiert wie tödlich.

Der Tod des Staatsmanns beendet ein Zeitalter und Mantels Werk

Als es nur noch darum geht, den König um Gnade zu bitten, macht Cromwell sich keine Illusionen:

„Er hat nach den Gesetzen gelebt, die er gemacht hat, und muss nun zufrieden damit sein, nach ihnen zu sterben. (…) Es scheint in dieser Welt keine Gnade zu geben, nur eine Art willkürlicher Gerechtigkeit: Männer bezahlen für Verbrechen, aber nicht notwendigerweise für die eigenen.“

So endet ein brillanter Staatsmann und mit ihm ein Zeitalter, das golden hätte werden können. So schließt aber auch ein großes Werk, dessen Schöpferin zeigt, welche literarische Potenz im vielstrapazierten Genre des historischen Romans steckt - und wie lebendig die Toten sind.

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Julia Schröder