Buchkritik

Helga Schubert – Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe

Stand
AUTOR/IN
Theresa Hübner

Seit vielen Jahren pflegt die Autorin und Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert ihren kranken, dementen Mann. In ihrem neuen Buch erzählt sie von den vielen schweren Momenten im Pflegealltag, von Verzweiflung und Einsamkeit. Aber es geht auch um die Liebe und die schönen Augenblicke, die die letzte gemeinsame Zeit lebenswert machen. Ehrlich und wunderschön.

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Gleich auf der ersten Seite zeigt Helga Schubert, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Und hört auf den dann folgenden fast 300 Seiten nicht mehr damit auf….

Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme.
Wir sind seit 58 Jahren zusammen.
Zwei alte Liebesleute.

Und wenige Zeilen weiter dann diese Szene:

Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist.

Wunderschöne, zarte Momente des Glücks und der Zärtlichkeit, neben den ganz pragmatischen, unromantischen Handlungen, die nun mal dazu gehören, wenn man sich um einen pflegebedürftigen Menschen kümmert. Und das tut Helga Schubert, seit vielen Jahren schon pflegt sie ihren Mann, den Maler und früheren Psychologie-Professor Johannes Helm, „Derden“ nennt sie ihn. Die beiden wohnen sehr ländlich in einem Dorf in Mecklenburg, idyllisch, aber auch etwas einsam ist es dort. Der Alltag mit ihrem kranken Mann ist kräftezehrend. Es gibt Tage, da ist er verwirrt, unruhig, es gibt gefährliche Situationen, die Helga Schubert, selbst über 80 Jahre alt, kaum bewältigen kann.

Da bist du ja, mein Engel, sagte Derden. Ich habe um Hilfe gerufen, niemand hat es gehört, aber du.

Sein Rollstuhl lag zusammengeklappt zwei Meter von ihm entfernt, war er von dort hierher gekrochen? Ich klappte den Rollstuhl auseinander. Wie sollte er jetzt in den Rollstuhl kommen?

Helga Schubert schreibt ehrlich und ohne zu beschönigen. Ganz offen gibt sie zu, wie sehr ihr die Aufgabe auch manchmal eine Last ist. Dass sie manchmal so verzweifelt ist, dass sie selbst nicht mehr leben möchte. Dass sie daran denkt, dass Derdens Tod für sie auch wieder mehr Freiheit bedeuten würde, sich aber gleichzeitig für diese Gedanken schämt.

Und sie reflektiert klug über ihre eigene Zukunft – wie es wohl sein würde, wenn sie selbst mal gepflegt werden muss und ob es nicht besser wäre, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, so wie der Mann aus dem Dorf, der viele Waffen besaß, gegen Einbrecher.

Er sagte, dass er sich nicht erhängen werde, wenn es einmal sein müsse, wie andere in unserem Dorf oder in der Nähe. Das ginge doch einfacher. Er würde sich erschießen. Und das hat er auch getan, als er die Krebsdiagnose erhielt.

Doch bei aller Schwere des Pflegealltags ist „Der heutige Tag“ kein deprimierendes Buch – im Gegenteil, es gibt sehr unterhaltsame Szenen, etwa wenn das Paar am 18. Februar nochmal Weihnachten feiert, weil Derden überzeugt ist, es sei Heiligabend. Oder wenn sich Helga Schubert erinnert, wie die Stasi in der DDR versuchte sie zu beschatten in dem sie eine hübsche Studentin auf ihren Mann ansetzte – vergeblich: „Er scheint der Schubert treu zu sein“, lautete der nüchterne Aktenvermerk.

Trotz jahrelanger Bemühung, das stand auch noch in meiner Akte, sei es nicht gelungen, in meinem privaten Bereich einen Informellen Mitarbeiter zu platzieren, weil ich ausschließlich von Menschen umgeben sei, die ebenfalls operativ bearbeitet werden.

Die Diktatur der Gartenzwerge hatte unsere Ehe also heil überstanden.

Wer Helga Schuberts Roman „Vom Aufstehen“, mit dem sie den Bachmann Preis gewonnen hat, kennt, der findet in „der heutige Tag“ einige bekannte Themen wieder. Versöhnen und Verzeihen, Loslassen, das Sterben – beschäftigen die Autorin auch in diesem Roman (wieder oder immer noch), doch anders als im Vorgänger, nimmt die Liebe, die sich das Paar auch nach Jahrzehnten erhalten hat, viel Raum ein – nicht umsonst lautet der Untertitel „Ein Stundenbuch der Liebe“. Stundenbücher waren im Mittelalter Gebetsbücher für die Gläubigen, gegliedert anhand der Stunden eines Tages. Man kann, wenn man möchte, diesen Roman auch als eine Art Anleitung für das Lieben, das sich Achten und den würdevollen Umgang miteinander verstehen.

Er gab mir seine Hand. Sie war kalt. Ich versuchte, sie zu wärmen, nahm sie unter meine Decke auf meinen warmen Bauch in meine warmen Hände.

Das ist übrig nach unseren Jahrzehnten, dachte ich: Hände, die sich aneinander wärmen. Ich gab ihm unter der Decke die Hand und drückte sie. Und er drückte meine Hand. Wie ein Versprechen. In guten und in schlechten Zeiten. Aber es sind gar keine schlechten Zeiten.

Szenen wie die mit den sich wärmenden Händen sinken beim Lesen tief ins Bewusstsein. Helga Schuberts Stil ist poetisch, reduziert und klar – aber immer weit genug entfernt vom Kitsch. Und auch wenn das Buch vom langsamen Abschiednehmen handelt, hat die Autorin mit „Der heutige Tag“ eine große Liebeserklärung verfasst, an den Mann an ihrer Seite und an das Leben.

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Die meiste Zeit war Helga Schubert nur Literatur-Experten ein Begriff: In der DDR gehörte sie zu den unbequemen Literaten, musste beispielsweise 1980 eine Einladung zum Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ablehnen. Diesen Sommer wurde ihre Kurzgeschichte „Vom Aufstehen“ dort preisgekrönt. Späte Genugtuung?

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