Buchkritik

Helene Hegemann – Schlachtensee. Stories

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Kraftvolle und entkräftete, seltsam überspannte und dann wieder erstaunlich verletzliche Figuren in fünfzehn Geschichten, die überall auf der Welt spielen. An der Wolga, in Österreich, in den USA und in Deutschland. Der Stil der Autorin so rabiat wie feinfühlig. Als wäre Christoph Schlingensief auf die Erde zurückgekehrt und hätte noch etwas Wildes zu erzählen. Helene Hegemanns „Schlachtensee“ aber ist nicht nur zeitgemäßer, sondern auch deutlich kunstvoller als Schlingensiefs „Kettensägenmassaker“.

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Die hitzigen Debatten zu Hegemanns Debüt „Axolotl Roadkill“ wirken nach - aber: Mit den ersten Sätzen in „Schlachtensee“ verschwinden die Zweifel

Es ist nur schwer möglich, ein Buch von Helene Hegemann in die Hand zu nehmen, ohne an ihr wildes Debüt „Axolotl Roadkill“ und die hitzigen Debatten zu denken, die ihr Erstling ausgelöst hat. War damals eine Kopistin am Werk oder gehörte das Spiel mit den nicht gekennzeichneten Zitaten tatsächlich zu einem neuen Stil, der urheberrechtliche Gepflogenheiten und andere Schreibregeln bewusst ignorierte? Die Frage konnte nicht wirklich beantwortet werden.

Dass Hegemann literarisches Talent besaß, bestritten die wenigsten Rezensenten, aber so ganz wohl war einem bei der Lektüre ihrer Texte seitdem nicht mehr. Jetzt aber die Überraschung: Mit den ersten Sätzen in „Schlachtensee“ verschwinden die Zweifel. „Snoopy, das Meer und ich“ heißt die beklemmend existentielle und dann auch ins Politische abhebende Geschichte einer Surferin, die an der Küste von San Francisco weilt und am Telefon erfährt, wie krank ihr Vater ist.

Ihr Vater sagt, es gebe schlechten Neuigkeiten. Unbesiegbarer Krebs, der auf die Lymphbahnen übergegangen sei

„Bevor sie ihren Vater zurückruft, kippt sie verschimmelten Parmesan aus einer Metalldose auf ihr Essen. Sie weiß nicht, warum sie das tun. Sie weiß auch nicht, dass der Parmesan verschimmelt ist. Dann steht sie auf, läuft zwischen Restaurant und Surfshop auf und ab, schmiert den Sonnenbrand in ihrem Gesicht mit neonfarbener Zinksalbe ein und blickt auf die Wellen, die in der Nähe von Grönland entstanden sind und jetzt mit ihrer ganzen Gewalt auf die Sandbänke einer Touristenhochburg in Nordfrankreich knallen. Ihr Vater sagt, es gebe schlechten Neuigkeiten. Unbesiegbarer Krebs, der auf die Lymphbahnen übergegangen sei.“
(Helene Hegemann: Schlachtensee)

Hegemanns Sprache ist kein verbales Auskotzen mehr; ihr Tonfall nicht nur ruppig, sondern immer auch mitfühlend. Ihre Sätze, so hat man den Eindruck, nehmen die inhaltlichen Wellenbewegungen auf, die nur vordergründig unberechenbar sind.

Hegemann bleibt nicht bei den altbekannten Männerbildern stehen

In der Auftaktgeschichte treiben wir thematisch ein wenig ab aufs große, dunkle Menschenmeer, um schließlich wieder zum Ausgangspunkt zu gelangen. Die Surferin versucht das Telefonat mit dem Vater zu verarbeiten, indem sie ein Buch über die psychologischen Voraussetzungen für den Zweiten Weltkrieg liest. Darin geht es um die „Gewalt in männlichen Körpern“, die sich „seit Jahrtausenden“ verselbständigt hat.

Hegemann bleibt nicht bei den altbekannten Männerbildern stehen. Der Vater ist und bleibt für die Tochter ein gültiges Gegenmodell. Gerade in der Krise beweist er sein emanzipiertes Verhältnis zum eigenen Körper.

Die Tochter indes ist auf der Riesenwelle mindestens so männlich wie die todesmutige Surferlegende im mitgebrachten Video, über das der Vater, der gerne mal Snoopy zitiert, nur staunen mag. Und die Story endet mit einer Pointe, die man eher von einem dauerhungrigen Sohn vermutet hätte.

„´Das zieht einem echt den Stecker´, sagt ihr Vater, und sie fragt ihn, ob er Bock auf Vietnamesisch hat.“
(Helene Hegemann: Schlachtensee)

Helene Hegemann hat sich zu einer Schriftstellerin entwickelt, die vielschichtig zu erzählen weiß

Helene Hegemann – das zeigen auch die folgenden Geschichten – hat sich zu einer Schriftstellerin entwickelt, die längst nicht mehr nur provozieren möchte, sondern wirklich vielschichtig zu erzählen weiß, die überraschende Plots und bildstarke Szenen entwirft.

Oft geht es ums Sterben. Um Sex und Gewalt. Um sinnlose Stupidität wie in der „Pfauengeschichte“, die von einem irren Typen in South Carolina handelt, der einen Pfau im Vorgarten mit seinem Golfschläger zu Tode geprügelt hat.

Dabei geht es nicht nur um die monströse Tat, sondern vor allem um die Art und Weise, wie die Nachbarn darüber sprechen. Die abstoßende Anekdote wird mit gewisser Lust weitergetragen. Dass der Pfauenkiller auch viele Menschen mit Finanzspekulation ins Unglück getrieben hat, wird erst am Ende der Story erwähnt. Mit der strukturellen Gewalt haben sich die meisten Menschen mehr oder weniger abgefunden. Die Erzählerin aber muss nur den Namen des Schlägers nennen, der nur kurz im Gefängnis war und aus gesundheitlichen Gründen schnell wieder entlassen wurde, um die Gesichter seiner Opfer vor sich zu sehen …

„… denen sich eine spezielle Form von Wahnsinn eingeschrieben hat, der apathische andauernde Schock über die Schlagartigkeit der Ereignisse, der Schock, der zu einer Bewegungsstarre geführt hat, zu stürmischer Taubheit.“
(Helene Hegemann: Schlachtensee)

Hegemann begegnet den seltsam verdrehten Charakteren mit einem so erbarmungslosen wie empathischen Stil

Die Figuren in Hegemanns Erzählungen sind so kraftvoll wie entkräftet, mal seltsam überspannt, dann wieder verletzlich und versehrt. Sie sind überall in der Welt unterwegs, an der Wolga, in Österreich, in den USA und in Deutschland. Die Autorin begegnet den seltsam verdrehten Charakteren mit einem so erbarmungslosen wie empathischen Stil, als wäre Christoph Schlingensief auf die Erde zurückgekehrt, um den Irrsinn der Welt noch einmal auf die Bühne zu bringen. Kein Wunder, hat Helene Hegemann doch als Tochter des legendären Dramaturgen Carl Hegemann die Berliner Volksbühne in ihren besten Zeiten erlebt.

Ihr „Schlachtensee“ ist aber nicht nur zeitgemäßer, sondern auch deutlich kunstvoller als Schlingensiefs „Kettensägenmassaker“. Im Mittelpunkt ihrer Ästhetik steht eine Wortschöpfung Dostojewskis: надрыв. So auch der in kyrillischen Buchstaben gesetzte Titel der stärksten Geschichte in ihrem Band.

Die russische Vokabel ist im Kosmos der Volksbühne zu einem Schlüsselbegriff geworden, der in diesem Zusammenhang gar nicht mehr übersetzt wird. Nadrýw meint eine emotionale Spannung, die in Dostojeweski-Übersetzungen noch als „Schmerzekstase“ oder „wunde Stelle“ wiedergegeben wurde. Ein Film über das Ende von Frank Castorfs Intendanz am Rosa-Luxemburg-Platz hieß „NADRYW – Die Volksbühne als letzte Realität“.

Der machtbewusste und sexsüchtige Oligarch wird schon bald zur Projektionsfläche der Erzählerin

Auch in Hegemanns Werk taucht der Begriff gelegentlich auf. Die mit надрыв überschrieben Hegemann-Story ist eine bizarre Liebesgeschichte, in der zunächst ein machtbewusster und sexsüchtiger Oligarch namens Arkadi portraitiert wird. Der Mann wird schon bald zur Projektionsfläche der Erzählerin.

„Ich zählte Arkadi zu meinen Feinden. Trotzdem achtete ich ihn mehr als die meisten der Männer, die ich als meine Kumpels bezeichnen würde, mir sind Zorn und Zynismus im Kampf gegen Gegner immer lieber gewesen als Heuchelei im Kampf um gar nichts.“
(Helene Hegemann: Schlachtensee)

Eigentlich möchte die Ich-Erzählerin von Arkadis Protz und seinem Machogehabe berichten, doch je länger sie über den Russen nachdenkt, desto mehr erfahren wir über ihr widersprüchliches Leben: Sie ist mit einem fünfunddreißig Jahre älteren Mann verheiratet, Sex aber hat sie vor allem mit Frauen.

Die namenlose Erzählerin scheint äußerst klug zu sein, immerhin forscht sie im Bereich der künstlichen Intelligenz. Am Ende spielt das jedoch alles keine Rolle, und sie wird erst in Arkadis Bett und dann in der verdreckten Wolga landen. Diese Geschichte kann vielleicht als politische Allegorie gelesen werden, im erzählerischen Kern aber steht erneut Nadrýw, jenes Gefühl der Anspannung, das alles ändert und selbst im schmerzhaften Chaos noch Schönheit aufzeigt.

Hegemanns Stories entfalten einen erstaunlichen Sog, selbst wenn bzw. gerade weil die Autorin den Erzählfluss durch Reflexionen zur Kunst oder zur politischen Weltlage zu stören versucht. Manchmal wird das lesende Publikum auch direkt angesprochen. Die Dialoge sind schnell und lässig; derbe Kraftausdrücke wechseln sich ab mit elaborierten Metaphern. Eigentlich erstaunlich, dass bei dieser Formenfülle nicht nur konsistente Einzelgeschichten entstehen. Die insgesamt 15 Stories scheinen auch untereinander zu kommunizieren, was auch daran liegt, dass manche Figuren in verschiedenen Erzählungen auftauchen.

Ein inhaltlich beunruhigender und literarisch beeindruckender Erzählband

Der Berliner Schlachtensee wird übrigens kein einziges Mal in den Texten erwähnt. Der bedrohlich klingende Name des kleinen und harmlosen Gewässers ist eben auch nur ein weiteres Beispiel für das Spiel mit Nadrýw.

Helene Hegemann hat einen inhaltlich beunruhigenden und literarisch beeindruckenden Erzählband geschrieben, der Vermutungen über den Verlauf einer Geschichte durchweg geschickt unterläuft.

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Carsten Otte