Literatur

Gstrein, Kracht und Sanyal: Längst bekannte Titel auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis

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Alexander Wasner

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Fünf Titel aus dem Frühjahr, nur einer aus aktuellen Verlagsprogrammen

Die Shortlist zum Deutschen Buchpreis wirkt provozierend: Norbert Gstrein, Der zweite Jakob, 1961 geboren, im Februar bei Hanser erschienen. Monika Helfer, Vati, 1947 geboren, im Januar bei Hanser erschienen, Mithu Sanyal, Identitti, 1971 geboren, erschienen im Februar bei Hanser. Thomas Kunst, 1965 geboren, erschienen im Februar bei Suhrkamp. Antje Ravik Strubel, 1974 geboren, erschienen im August bei S. Fischer. Christian Kracht, eurotrash, 1966 geboren, erschienen im März bei KiWi.

Kein Titel aus einem Kleinverlag

Drei Männer, drei Frauen, ok. Aber: Fünf Titel aus dem Frühjahr, nur einer aus aktuellen Verlagsprogrammen. Das ist schon einmal eine spannende Gewichtung. Dreimal Hanser, einmal Suhrkamp, einmal S. Fischer, einmal KiWi – große westdeutsche Verlage, keine Kleinverlage wie sonst.

„Identitti“ von Mithu Sanyal - mehr als 400 Seiten Collegegeplauder über Identitätspolitik

Aber: Nur einer der auf der Shortlist vertretenen Romane wurde von jemandem aus Westdeutschland geschrieben. Und das ist der von Mithu Sanyal. Sie kommt aus Düsseldorf und hat mit „Identitti“ den Roman zur Shortlist beigetragen, der am weitesten vom Literaturkanon der BRD entfernt ist, mehr als 400 Seiten Collegegeplauder über Identitätspolitik. Ich habe das damals nicht ganz gelesen, auch wenn ich mich über den Erfolg dieses Romans gefreut habe, weil er mir signalisiert, wieviel Interesse identitätspolitische Themen hervorrufen und wie ausdifferenziert die Gesellschaft ist und wie sich das literarisch niederschlägt.

Etwas plakative Handlung und sehr gelungene Naturbeschreibungen in Antje Rávik Strubels „Blaue Frau“

Antje Rávik Strubel ist mit, „Blaue Frau“, auf der Liste. Das Buch ist ganz rot, eine Geschichte männlicher Übergriffe, die eine junge Frau an verschiedenen Stellen bei ihrer Odyssee aus der tschechischen Einöde nach Berlin erfährt. Julia Schröder meinte in SWR2: Etwas plakative Handlung, sie streift das Klischee nicht nur, wenn es um Zwangsprostituierte, schlimme Schurken und labernde Intellektuelle geht. Dafür enthält das Buch sehr gelungene Naturbeschreibungen.

„Zandschower Klinken“ von Thomas Kunst ist ein Aussteigerroman, eine Utopie

Sie ist die eine Ostdeutsche, der andere ist Thomas Kunst aus Stralsund. Das Buch, von dem ich am meisten hoffte, dass es auf die Shortlist kommt. „Zandschower Klinken“ ist ein Aussteigerroman, eine Utopie, das heißt ja übersetzt: Ohne Ort. Thomas Kunst nimmt sich die Freiheit, irgendwo im Nirgendwo seinen Helden stranden zu lassen, direkt am Feuerlöschteich von Zandschow, der auch als Indischer Ozean bezeichnet wird. Entsprechend wird er eingerichtet, geschmückt mit Flamingos und ähnlichem – ein bisschen Pippi Langstrumpfhaft macht sich das Dorf die Welt, wie es ihm gefällt. Mit Hängematten und Äffchen an der Küste des Feuerlöschteichs. „Um aus Zandschow herauszukommen, bleibt er in Zandschow.“

Norbert Gstreins „Der zweite Jakob“ ist glänzend geschrieben, sehr lustig und hochliterarisch

Norbert Gstrein aus Österreich geht in „Der zweite Jakob“ elegant mit der Situation um, dass er im Frühjahr 60 wurde – und sich deshalb ein alter ego als Schauspieler ausgedacht hat, dem er jetzt neben einigen Ähnlichkeiten mit sich selbst Verbrechen unterschieb, ein gewaltiges Problem damit und einen versteckt lebenden Onkel, eben den ersten Jakob. Glänzend geschrieben, sehr lustig und gleichzeitig hochliterarisch.

„Vati“ von Monika Helfer ist ein schmaler autofiktionaler Roman

Ebenfalls aus Österreich kommt Monika Helfer, die mit „Vati“ eine schmale fast Erzählung zu nennende Veröffentlichung im Frühjahr hatte, ebenfalls autofiktional, Ergänzung zum Buch „Die Bagage“, dem großen Erfolg. Jetzt erzählt Monika Helfer vom Schweigen des Vaters, von Kriegserlebnissen, bei denen er ein Bein verlor, von Armut und immer auch von sich.

In „Eurotrash“ von Christian Kracht heißt der Ich-Erzähler Christian Kracht

Und dann ist noch der Schweizer Titel, Christian Kracht erzählt in „Eurotrash“ einen Besuch des Ich-Erzählers bei der 80jährigen psychisch außerordentlich schwierigen Mutter, vom Geldadel der Schweiz und von sich, dem Ich-Erzähler. Das Buch ist sozusagen der Anschluss an „Faserland“, erzählt vom Leerlauf eines wohlhabenden Milieus.

Eine partizipative Shortlist: Alle können mitreden

Alle Nominierten, außer Monika Helfer, die Anfang 70 ist, sind um die 50 Jahre alt. Die ganze Herbstproduktion bleibt weitgehend ausgeklammert. Aber vielleicht ist die Verstörung produktiv. Dafür nämlich kann man dieses Mal wenigstens mitdiskutieren, wenn es um die Auswahl des tatsächlichen Buchpreises geht.

Welcher Roman der beste ist, das war noch nie so gut diskutierbar wie in diesem Jahr. Reden Sie mit ihrem Buchhändler darüber: Diese Titel kennt schon mancher und sie sind alle sehr gut lesbar. Das ist mal ein Experiment in diesem Jahr. Eine partizipative Shortlist: Alle können mitreden.

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Alexander Wasner