Kommentar

Geistiger Bruder Büchner - Emine Sevgi Özdamar ist die Georg-Büchner-Preisträgerin 2022

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Am 5. November wurden in Darmstadt die Preise der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliegen. Den Georg-Büchner-Preis erhielt die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar. Der Architekturjournalist Niklas Maak erhielt den Johann-Heinrich Merck-Preis für literarische Kritik und Essay. Preisträgerin des Sigmund-Freud Preises für wissenschaftliche Prosa ist die Ethnologin Iris Därmann.

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Schlicht und straff: dreimal Laudatio, Überreichung der Urkunde und Dankesrede

Sprache, so erfährt man bei der jährlichen Verleihung der Akademie-Preise, ist eine ernste und hochpräzise Angelegenheit. Jedenfalls gibt es einen minutengenauen Ablauf der Veranstaltung im Darmstädter Staatstheater, und im Vorfeld wird schriftlich um Verständnis gebeten, „dass es kleine Abweichungen geben kann“. Mit größeren Änderungen rechnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ohnehin nicht.

In diesem Jahr war der Festakt exakt eine Minute vor dem angegebenen Schlusspunkt beendet, und diese seltsam perfekte Organisation passt gut zu einer schmucklosen Veranstaltung, auf der schon ein struppiges Blumengebinde auf der Bühne aus dem Rahmen fällt. Keine musikalischen Zwischenspiele, keine neumodischen und völlig unberechenbaren Gesprächsformate stören den dreimaligen Wechsel von Laudatio, Überreichung der Urkunden und Dankesrede.

Ein weißer Mann lobt einen anderen weißen Mann vor einem Publikum aus vielen weißen Männern

Als Zeremonienmeister erlaubte sich Akademie-Präsident Ernst Osterkamp dieses Mal zwar die eine oder andere flapsige Bemerkung zur akribischen Einhaltung der Programmpunkte. In seiner kurzen Begrüßung des Publikums aber beschrieb er mit strenger Miene zunächst einmal die existenzbedrohlichen Krisen im Kulturbetrieb, ausgelöst durch Pandemie und russischem Angriffskrieg in der Ukraine.

Damit war der Saal stimmungstechnisch vorbereitet auf die erste Lobrede des Abends, wobei der in Rotterdam geborene Architekt Rem Kohlhaas warnte, Niederländer hätten „keine Tradition des Lobens“, es sei ohnehin ein „großes Risiko“, ihn eine Laudatio auf den Architekturjournalisten Niklas Maak halten zu lassen.

Doch das Wagnis hielt sich erwartungsgemäß in den überschaubaren Grenzen westeuropäischer Intellektualität, indem Kohlhaas mit antiker Rhetorik spielte, ohne es zu versäumen, dem Zeitgeist zu huldigen und die Redesituation in Darmstadt zu thematisieren: „Vor Ihnen steht ein weißer Mann, der einen anderen weißen Mann lobt, vor einem Publikum aus vielen weißen Männern …, eine eher verdächtige Situation.“

Johann-Heinrich Merck-Preis für literarische Kritik und Essay an den Architekturjournalisten Niklas Maak

Die weitgehend ergrauten Herren in den erstaunlich lichten Reihen des Theatersaals nickten pflichtschuldig, und so konnte der 1972 geborene, also fast noch jugendliche Maak, der den Johann-Heinrich Merck-Preis für literarische Kritik und Essay erhielt, selbstbewusst von sich erzählen und zwei, drei Anekdoten aus seinem Journalistenleben in seiner Dankesrede unterbringen – ohne unangenehm aufzufallen.

Den Sigmund-Freud Preis für wissenschaftliche Prosa erhält die Ethnologin Iris Därmann

Nach der Verleihung des Sigmund-Freud Preises an die Ethnologin Iris Därmann, die im Verhältnis zu Maak fast schon übersachlich einen Ausschnitt ihrer Arbeit darbot, freuten sich die Anwesenden über die erneut pünktliche Vergabe des Georg-Büchner-Preises an die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar. Sie erhielt die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland für ihr „bahnbrechendes Werk“, dessen „multiperspektivische Texte neben intimen persönlichen Erfahrungen ein breites Panorama deutsch-türkischer Geschichte entfalten“.

Georg-Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance/dpa | Helmut Fricke)
Emine Sevgi Özdamar ist die Georg-Büchner-Preisträgerin 2022

Büchnerpreisträgerin Emine Sevgi Özdamar erzählte, warum Georg Büchner so etwas wie ihr geistiger Bruder sei

Literaturkritikerin Marie Schmidt lobte nicht nur die Sprachenvielfalt in Özdamars Monumentalroman „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Anfangs meckerte Schmidt ein wenig über das Schubladendenken ihrer Zunft, betrieb dann professionelle Textexegese und schloss mit einem euphorischen Eingeständnis: „Ich kenne in der Literatur deutscher Sprache kein vergleichbares Hybrid aus Dichtung, Prosa und Drama wie dieses, ihr Werk.“

Heute wurde der Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar der Georg-Büchner-Preis verliehen. Sie erhielt die wichtigste...Posted by SWR Kultur on Sunday, November 6, 2022

Wie kunstvoll und gewiss auch „hybrid“ sich die Autofiktion Özdamars gestaltet, bewies die Büchner-Preisträgerin in einer durchaus berührenden Ansprache, die formal und inhaltlich ihrer Literatur gleicht. Sie erzählte von ihrer Kindheit und Jugend, von ihrer Großmutter und den Spinnen im Hause der Eltern, von den Aufbrüchen in den 1960er Jahren und warum Georg Büchner so etwas wie ihr geistiger Bruder sei.

Akademie-Präsident Osterkamp verabschiedete sich daraufhin erfreut mit dem Hinweis, im nächsten Jahre gebe es in Darmstadt gewiss „wieder schöne Reden“ zu hören. Fast unheimlich wirkte diese ritualhafte Schlussbemerkung auf einer Veranstaltung, die wieder einmal vergangene Kulturtraditionen beschwor.

Ein Veranstaltung im Geist der alten ans gewichtige Wort glaubenden Bundesrepublik

Es wehte tatsächlich der Geist der alten, präzise-schlichten und ans gewichtige Wort glaubenden Bundesrepublik durch das Staatstheater am Georg-Büchner-Platz.

Literatur Eine eigensinnige und freie Stimme - Emine Sevgi Özdamar erhält den Georg-Büchner-Preis 2022

Emine Sevgi Özdamar erhält den Georg-Büchner-Preis 2022. Das gab die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt am 9. August bekannt. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird im Rahmen der Herbsttagung der Akademie am 5. November 2022 verliehen.

Buchkritik Emine Sevgi Özdamar - Ein von Schatten begrenzter Raum

Wohlverdiente Ehrung für Emine Sevgi Özdamar: Für ihre poetische Biografie "Ein von Schatten begrenzter Raum" erhielt die türkischstämmige Erzählerin unlängst den "Bayerischen Buchpreis".
1946 in der Türkei geboren, kam sie in den 1970er Jahren als Schauspielerin nach Deutschland. Sie arbeitete in Berlin, Paris und einige Jahre an Claus Peymanns Schauspielhaus in Bochum. In ihrer Autobiografie erzählt sie vom Theater, vom Schreiben und vom Reisen. Szenen eines übersprudelnden Lebens.
Rezension von Carsten Hueck.
Suhrkamp Verlag, 762 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-518-43008-8

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Georg-Büchner-Preis 2021

Literatur Georg-Büchner-Preis 2021: Clemens J. Setz bekommt den renommierten Literaturpreis

Der Georg-Büchner-Preis 2021 geht an den österreichischen Schriftsteller Clemens J. Setz. Ursprünglich 1923 während der Weimarer Republik als hessischer Kulturpreis ins Leben gerufen, wird der Georg-Büchner-Preis seit 1951 von der Akademie für Sprache und Dichtung als Preis für deutschsprachige Literatur vergeben. Er gilt als wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands.

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Carsten Otte