Wie entsteht Lyrik? Wie sind Dichterinnen und Dichtern ihre berühmten Zeilen eingefallen? Welche ihrer Ideen führte zum Schreiben?
Wie entsteht Lyrik? Wie sind Dichterinnen und Dichtern ihre berühmten Zeilen eingefallen? Welche ihrer Ideen führte zum Schreiben?
„Thomas Brasch ist ein Rockstar der Lyrik!“ Das sagt die Literaturkritikerin und Moderatorin Insa Wilke. Sie fasziniere einerseits der oft einfache, eingängige Aufbau der Werke, die andererseits eine unglaubliche emotionale Sprengkraft hätten, sagt sie. So auch beim Gedicht „Halb Schlaf“. Es handelt von einem „Sich in sich selbst Verrennen“, vom Eingesperrt sein im eigenen „Schädelhaus“. Thomas Brasch hat das Gedicht Uwe Johnson gewidmet, obwohl sich die beiden Schriftsteller nur einmal begegnet waren. Und es dabei auch noch zum Streit kam. Doch beide verband eine gewisse Einsamkeit.
Im September 1780 schrieb Johann Wolfgang von Goethe eines seiner bekanntesten Gedichte: „Wandrers Nachtlied“, das mit der legendär gewordenen Zeile beginnt: „Über allen Gipfeln ist Ruh….“. Goethekenner bewundern den kurzen lyrischen Text als Naturgedicht voller Ruhe, finden darin aber auch Anzeichen von Todessehnsucht. Denn Goethe kritzelte das Gedicht an die Bretterwand einer kleinen Jagdhütte auf dem Kickelhahn, einem der höchsten Berge des Thüringer Waldes. Dort wollte er Abstand gewinnen von der Weimarer Hofgesellschaft, deren Intrigen und seinen Liebesaffären.
Hans Arp war einer der wichtigsten Künstler des Dadaismus. In Zürich hat er die Bewegung, die 1917 als Protest gegen den Ersten Weltkrieg begann, mitbegründet. Er studierte Kunst und arbeitete als bildender Künstler, aber er verfasste auch Lyrik.
Sein Gedicht vom „großen Mondtreffen“ ist ein klangvolles Beispiel für die Kunst, mit Worten zu jonglieren, die Hans Arp virtuos beherrschte. Was er in seinem Gedicht formuliert, ist nichts, was wir mit dem realen Mond in Verbindung bringen. Stattdessen betreibt er eine kühne Akrobatik mit Mond-Wortspielen, er arbeitet ganz frei wie etwa ein Jongleur mit brennenden Fackeln, so als versuche er, wie weit er es mit Worten treiben könne. Dabei verletzt er nie die Syntax des Satzes und wirft nicht die Worte frei in den Raum. Arp ist kein Sprachzertrümmerer, sondern ein Sprachzauberer. Er belässt die Worte in ihren Satzzusammenhängen, aber er spielt mit dem Wort-Sinn, er verbindet die Worte in unvorhergesehener Weise miteinander.
Es ist viel Bewegung in diesem Text, in dem völlig neue Wortschöpfungen kurz auftauchen, nur um gleich wieder zu verschwinden und der nächsten Formulierung Platz zu machen. Was bleibt, ist allein das Wort Mond, das auf diese Weise ein ganz eigenes Leben bekommt.
Venedig ist eines der beliebtesten Urlaubziele in Italien. Wo sonst sind Kunst und Kultur so dicht gedrängt anzutreffen. Die Tübinger Lyrikerin Eva Christina Zeller hat die Lagunenstadt intensiv kennen gelernt, als sie vor einigen Jahren drei Monate im Winter dort verbrachte. Die Stadt mit den berühmten Kanälen hat sie fasziniert und auch künstlerisch inspiriert. Nach ihrem Aufenthalt hat die Autorin den Lyrikzyklus „Auf Wasser schreiben“ verfasst. Darin verarbeitet sie in lyrischer Sprache ihre Eindrücke vom Licht und vom Leben in der Lagunenstadt.
José Oliver schenkt als „Blumenhallendichter“ Besuchern der Bundesgartenschau in Mannheim Gedichte aus einem Bauchladen.
Ein Gedicht und ein Musikstück können sich in ihrem Ausdruck recht ähnlich sein: Beide werden von komponierten Klängen geprägt, im Gedicht sind das oft kunstvolle Sprachmelodien, die dem Text einen durchaus musikalischen Charakter geben können. Die Lyrikerin Ann Kathrin Ast, die aus Speyer stammt und jetzt in Stuttgart wohnt, vereint in ihrer Lyrik Sprache und Musik. Die Inspiration dazu kam, während sie Cello studierte. Mittlerweile hat sie das Cellostudium abgeschlossen und in diesem Jahr ihren ersten Lyrikband mit dem Titel „vibrieren in dem wir“ veröffentlicht. Darin finden sich Gedichte, in denen die Worte wie die Takte in einem Musikstück fließen und einen Zugang zu den Emotionen hinter der Musik ermöglichen.
Die Berliner Lyrikerin Ulrike Almut Sandig ist der Beweis dafür, dass das Klischee vom „Dichten im stillen Kämmerlein“ so gar nicht mehr stimmt. Sprache ist für sie Kommunikation, das Gedicht ihre Form, sich über das auszutauschen, was in der Welt geschieht. Bei dem Versuch, über das Mittelmeer zu fliehen, sind seit 2014 mehr als 27.500 Menschen ums Leben gekommen. Auf die dramatischen Rettungsversuche, die Bemühungen der Sea-Watch 3 2019 im Hafen von Lampedusa einlaufen zu dürfen, hat die Dichterin mit dem Gedicht „Open Arms“ reagiert, das sie für den Deutschlandfunk Kultur eingesprochen hat.
Frank Wedekind löste mit seinen skandalträchtigen Theaterstücken wie „Frühlings Erwachen“ und „Lulu“ großes Aufsehen aus und kam deswegen sogar mehrfach vor Gericht. Dabei fand er genau dort aber auch Inspirationen für Gedichte. Besonders beeindruckte ihn der wahre Fall eines jungen Mannes, der seine Tante aus Habgier erschlagen hatte. Er verpackte dieses Verbrechen in ein Gedicht, das allerdings – typisch Wedekind – völlig respektlos, zynisch und witzig daherkommt. Er trug das Gedicht „Der Tantenmörder“ 1902 auf der Bühne des kurz zuvor gegründeten Kabaretts „Die elf Scharfrichter“ in München vor und begleitete sich dazu mit der Laute.
Als die Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert vor neun Jahren ihren ersten Roman „Wurfschatten“ veröffentlichte, war das mediale Interesse und das Lob der Literaturexperten groß. Ihr zweiter Roman „Der Sprung“ erregte ebenso viel Aufsehen und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Im vergangenen Jahr legte Simone Lappert ihren ersten Lyrikband vor und beweist damit, dass sie auch dieses Genre beherrscht. In pointierter Sprache, mit Witz und feiner Poesie schreibt die Autorin von menschlichen Gefühlen und ihrer Zerbrechlichkeit. Der Titel des Bandes „längst fällige verwilderung" stammt aus ihrem Gedicht „selbstportrait".
Was ist schöner, als an einem heißen Sommertag baden zu gehen, ganz besonders in einem kühlen Fluss oder See. Bertolt Brecht hat 1919 über diese Beschäftigung das Gedicht „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ geschrieben. Dabei war der Dramatiker wasserscheu, wie unter anderem sein Freund Max Frisch bezeugte. Der Schweizer Autor, der auch Architekt war, liebte hingegen das Schwimmen. Nach seinem Entwurf wurde in Zürich sogar ein Freibad gebaut.
Uta Gosmann hat sich mit Übersetzungen von Gedichten der Nobelpreisträgerin Louise Glück einen Namen gemacht. Ihre eigene Lyrik erschien bisher in vielen renommierten Literaturzeitschriften und Anthologien. Jetzt hat die in Nordrhein-Westfalen geborene Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin, die in den USA lebt, erstmals einen Lyrikband veröffentlicht. Er trägt den Titel „Reise durchs Nimmerich“. In ihren Gedichten thematisiert sie häufig die Wüste New Mexicos. Sie mag diese karge Landschaft, findet darin aber auch Bezüge zum verwüsteten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Heinz Piontek gehört zu den deutschen Lyrikern mit den meisten Preisen. Schon als er sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Alter von 22 Jahren als Schriftsteller in Bayern selbstständig machte, wurden seine Gedichte, seine Essays und Romane hochgelobt. Höhepunkt der Auszeichnung war 1976 die Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Gleichzeitig wurde er von vielen Kritikern als konservativ verachtet. Die Verletzungen trafen den Dichter so tief, dass er sich resigniert zurückzog. Anton Hirner leitet das Heinz-Piontek-Museum in Lauingen an der Donau: „Er ist ein Einzelgänger gewesen. Und er war nicht in der Gruppe 47, das ist bezeichnend. Das ist bestimmt auch den Kriegserlebnissen geschuldet, denn er wollte einfach nicht mehr geführt und gelenkt werden." Seine Werke, die in den 50er Jahren noch in Schulbüchern standen, sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten - völlig zu Unrecht.