Buchkritik

Fatma Aydemir - Dschinns

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Fatma Aydemir erzählt in ihrem zweiten Roman „Dschinns“ eine Familien- und Dämonengeschichte, die von der Migration einer kurdischen Familie nach Deutschland erzählt, von Sexismus, Rassismus und einem traurigen Geheimnis der Eltern, das auch das Leben der vier Kinder bestimmen wird. So eindringlich manche Szenen, so überladen wirkt die Gesamtkonstruktion des Romans. Die Sprache erinnert zuweilen an die Zeitungskolumnen der meinungsstarken Autorin, die Redakteurin bei der taz ist.

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Nach dreißig Jahren in deutschen Fabriken kann Hüseyin Yilmaz eine Dreizimmerwohnung in Istanbul kaufen

Das kurze Kapitel, mit dem Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“ beginnt, ist ein rasanter Einstieg in die Geschichte der Familie Yilmaz, die in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, weil sie sich ein „neues Leben“ erhoffte.

Eine mitfühlende und wehklagende Stimme wendet sich an den Vater Hüseyin Yilmaz und schaut auf dessen mühevollen Lebensweg: Fast dreißig Jahre hat er in verschiedenen Fabriken gearbeitet, zusammen mit seiner Frau Emine vier Kinder aufgezogen, und sich nun, als die Ersparnisse endlich ausreichten, in Istanbul eine Dreizimmerwohnung mit Balkon gekauft.

Wir erleben die letzten Minuten im Leben des leidgeprüften Mannes

Weil Deutschland ihm zwar Geld, aber kein Glück brachte, möchte er in der Rente einen weiteren Neuanfang wagen, bedrückende Erlebnisse in der Vergangenheit weit zurücklassen. Was genau passiert ist und wer auf den ersten Seiten dieses Romans spricht, ist zunächst unklar, aber mit den „Dschinns“, also den Dämonen im Romantitel, deutet sich an, wer dem Familienvater auch unangenehme Fragen stellt:  

„… weißt du, wer du bist, Hüseyin, wenn du die glänzenden Konturen deines Gesichts im Glas der Balkontür erkennst? Wenn du die Tür öffnest, auf den Balkon trittst und die warme Luft übers Gesicht streicht und die untergehende Sonne zwischen den Dächern des Wohnblocks von Zeytinburnu leuchtet wie eine gigantische Apfelsine?“
(Aus: Fatma Aydemir: Dschinns)

Weißt du, wer du bist? Hüseyin hat sich diese Frage vermutlich nicht nur einmal gestellt, und als nun über die Dächer Istanbuls schaut, meint er, seine Geschichte noch einmal umschreiben zu können. Doch plötzlich fühlt er einen stechenden Schmerz in der Brust, die Fragen im Kopf werden drängender, alles verschwimmt und wir erleben die letzten Minuten im Leben des leidgeprüften Mannes.

Heimatlosigkeit ist das Gefühl, das die Familienmitglieder verbindet

Die folgenden Tage, in denen die Familie nach Istanbul reist, um den Vater zu beerdigen, schildert Aydemir aus der Sicht der vier Kinder Ümit, Sevda, Peri und Hakan, und zwar eher klassisch, nämlich in der dritten Person. Jedem Kind ist ein Kapitel gewidmet.

Im Mittelpunkt dieser Portraits steht allerdings weniger das Verhältnis zum Verstorbenen als vielmehr die eigene Heimatlosigkeit, ein Gefühl, das die Familie, die nur noch aus Einzelpersonen zu bestehen scheint, dann doch verbindet. So beschäftigen die Fragen, die den Vater gequält haben, auch die nächste Generation, vor allem Ümit, den jüngsten Sohn: Weißt du, wer du bist? Und welche Sprache spricht überhaupt die Mutter, wenn sie mit den Verwandten redet?

„Ümit vermutet, dass es Kurdisch war, weil ja auch in den Nachrichten ständig von Kurden die Rede ist wegen der Festnahme von diesem Öcalan. Aber wie kann es sein, dass Ümit nicht mitbekommen hat, dass seine Mutter kurdisch ist? War sein Vater es etwa auch? Was sind dann seine Geschwister und Ümit selbst?“
(Aus: Fatma Aydemir: Dschinns)

Ümit weiß immerhin, dass er schwul ist, auch wenn das die Eltern nie wahrhaben wollten

Weißt du, wer du bist? Ümit weiß immerhin, dass er schwul ist, auch wenn das die Eltern nie wahrhaben wollten. Von seinem Fußballtrainer wurde er zu einem zweifelhaften Psychologen geschickt, weil er sich in einen Mitspieler verliebt hatte.

An die endlosen und schmachvollen Sitzungen mit dem homophoben Seelenklempner muss Ümit denken, als er den Leichnam seines Vaters sieht. Nicht besser ergeht es seinen Geschwistern, die ebenfalls auf ein Familienleben in der Dauerkrise zurückblicken.

Alle Charaktere in diesem Roman haben mit traumatischen Erlebnissen zu kämpfen

Auch wenn sie nicht explizit mit den Dschinns hadern, jenen Geisterwesen, die schon im Koran erwähnt werden, haben alle Charaktere in diesem Roman mit traumatischen Erlebnissen und Entscheidungen zu kämpfen, die sie bis heute verfolgen und ihre Identität in Frage stellen.

Für Sevda etwa fühlt sich die Nachricht vom Tod des Vaters wie eine „unmissverständliche Botschaft von oben“ an, als wolle „Allah sie bestrafen“. Sie hatte den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, weil die nicht akzeptieren wollten, dass sich ihre älteste Tochter von ihrem dauerbetrunkenen Ehemann trennte.

Statt sie zu unterstützen, musste Sevda ihre existentiellen Nöte allein meistern. Mit dem Mann, der nicht nur soff, sondern das hart verdiente Geld beim Poker verspielte, kommt es endgültig zum Bruch, als er völlig verlottert in der Pizzeria auftaucht, die Sevda von einer ehemaligen Nachbarin übernommen hatte.

„Er brachte nur die Namen der Kinder über die Lippen und begann zu weinen. Sevda erstarrte. Sie wollte so gerne wütend auf ihn sein. (…) Wer von diesen Reihenhaus-Deutschen wollte schon neben einem Penner sitzen und zwanzig Mark für einen Rotwein zahlen? Hatte er überhaupt eine Ahnung, was er tat? Wovon sollten seine Kinder leben, wenn Sevda keine Gäste mehr hatte?“
(Aus: Fatma Aydemir: Dschinns)

Statt Wut empfindet Sevda eher Mitleid, quält sich eine Nacht lang mit der Frage, ob sie den heruntergekommenen Gatten wieder aufnehmen soll, schickt ihn dann aber wieder zurück auf die Straße.

Die Figuren wirken manchmal wie Platzhalter für die Kritik der Autorin an Rassismus, Sexismus und Kapitalismus

Fast alle Beziehungen, die Fatma Aydemir in „Dschinns“ erzählt, sind am Ende. Frauen und Männer, Kinder und Eltern leben in zerrütteten Verhältnissen, die von menschlichem Versagen, aber auch von gesellschaftlichen und politischen Zumutungen geprägt sind. Dementsprechend konfrontativ sind die Figuren angelegt, die manchmal wie Platzhalter für die Kritik der Autorin an Rassismus, Sexismus und Kapitalismus wirken.

Im Grunde wird nicht klar, worauf der Text eigentlich abzielt. Handelt es sich um eine Migrationsgeschichte? Um einen Familienroman, in dem allerlei wichtige Themen anhand der Hauptfiguren durchdekliniert werden? Vermutlich lässt sich der Roman als Anklage gegen gesellschaftliche Verhältnisse lesen, in denen die eigene Identität immer fremdbestimmt bleiben muss.

Der Roman liest sich als Anklage gegen gesellschaftliche Verhältnisse. Die literarische Umsetzung ist schwach

So einleuchtend die These, so schwach die literarische Umsetzung. Denn viele Passagen sind reichlich schematisch gebaut: Hakan etwa fährt mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Autobahn, und die bösen Bullen unterstellen dem „frechen“ Fahrer, der auf keinen Fall als „Kanake mit Panik“ auftreten will, umgehend Drogenkonsum.

Als Peri in Frankfurt einen geheimnisvollen Mann trifft, der sich für die Freilassung des in der Türkei inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan einsetzt, folgt umgehend ein innerer Monolog, in dem der kurdische Befreiungskampf diskutiert wird.

„Sie war schockiert, dass sie zum ersten Mal mit dieser Frage konfrontiert war: Ob bewaffneter Widerstand nicht doch angemessen war, im Angesicht von jahrzehntelanger Unterdrückung und Massakern.“
(Aus: Fatma Aydemir: Dschinns)

Solche Ausführungen sind nicht einmal politisch erhellend, aber typisch für den Meinungsstrudel einer Prosa, in der grundsätzlich nach dem richtigen Standpunkt im Weltgeschehen gesucht wird. Anstatt etwas über das anstrengende Miteinander der Familie im kleinbürgerlichen Modellort Rheinstadt zu erfahren, statt den herausfordernden Alltag in bildstarken Szenen aufzulösen, die Reibungen zwischen Migranten und einheimischer Bevölkerung mal ohne Schwarz-Weiß-Malerei zu beschreiben, legt Aydemir den Fokus auf eine Zeit, in der die Kinder das Elternhaus schon verlassen haben.

Das Romanende wirkt seltsam überkonstruiert

Die titelgebenden Dschinn spielen im Mittelteil des Romans kaum eine Rolle. Statt zwischen den Zeilen und in den Köpfen der Protagonisten herumzuspuken, werden sie als Phänomen kurz mal erklärt und dann nicht wieder erwähnt. Die Portraits von Ümit, Sevda, Peri und Hakan sind gewiss als Skizzen der Vereinzelung zu lesen, erzählen aber nur indirekt vom oft beschworenen und völlig gestörten Miteinander der Familie.

Auch deshalb wirkt die Auflösung des Elterndramas im Schlusskapitel, das neben einem symbolhaften Erdbeben auch noch eine Genderpointe enthält, seltsam überkonstruiert. Das Romanende entwickelt sich zu allem Überfluss zu einer Rachesuada, in der Sevda der trauernden Mutter zunächst Lieblosigkeit vorwirft und ihr schließlich einen feministischen Grundsatzvortrag hält.

„Es mag stimmen, dass Männer das Sagen haben, ja (…). Aber damit sie das können, damit sie für immer alles bestimmen, dafür brauchen sie Leute wie dich. Frauen, die andere Frauen für immer kleinhalten.“
(Aus: Fatma Aydemir: Dschinns)

Hier spricht auch eine meinungsstarke Autorin zu ihrer eigenen Fanbasis - mit künstlerisch eher geringem Ertrag

Vielleicht richten sich solche Sätze auch nicht an die Mutter im Roman, die nach solchen Belehrungen die Dschinns und andere Dämonen nicht mehr zu fürchten braucht. Vermutlich wendet sich hier eine meinungsstarke Autorin an die eigene Fanbasis, die solche Zitate tatsächlich schon vor Erscheinen des Buches auf Twitter gefeiert hat – selbst wenn der künstlerische Ertrag eher gering ist.

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Carsten Otte