Buchkritik

Elke Schmitter – Inneres Wetter

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AUTOR/IN
Julia Schröder

Nach 15 Jahren Pause veröffentlicht Elke Schmitter wieder einen Roman. „Inneres Wetter“ will ebenso Familienporträt wie Zeitroman sein.

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Drei erwachsene Kinder - der 77. Geburtstag des Vaters steht an

Die Konstellation ist vertraut: drei längst erwachsene Kinder Anfang, Mitte fünfzig, verstreut über ganz Deutschland, und ein verwitweter Vater in Ostwestfalen, der demnächst seinen 77. Geburtstag begehen wird – Anlass, sich über ein nicht ganz spontanes Treffen zur Feier des Tages Gedanken zu machen.

Zugleich die ideale Gelegenheit, alte Prägungen und enttäuschte Erwartungen, auch die Traumata der Altvorderen aufbrechen zu lassen. Eine Familie, schrieb Martin Walser vor drei Jahrzehnten in seinem Roman „Ohne einander“, sei „ein Elendsverband. So etwas verlässt man nicht.“ Woher das Elend rührt und warum man es trotz allem nicht verlässt, ist neuerdings auch in Elke Schmitters Roman „Inneres Wetter“ nachzulesen. Wobei sich früher oder später die Frage aufdrängt, wie es um die Herrschaft über die eigene Biografie bestellt ist.

Die wohlstandslinken Ambitionen des Ehepaares hat die gemeinsame Tochter übernommen

Eine der Protagonistinnen kennt die Leserschaft bereits aus Schmitters zweitem Roman „Leichte Verfehlungen“ von 2002. Bettina war seinerzeit, im Jahrtausendwende-Berlin, eine der munter, schlau und Derrida-geschult vor sich hinplappernden Frauen mit Beziehungsherausforderungen.

Inzwischen – es ist das Frühjahr 2014 - geht es in ihrem Leben auf angenehme Weise langweiliger zu. Ihre Ehe mit dem kürzlich emeritierten Professor Johannes treibt in ruhigerem Fahrwasser, seitdem er nicht mehr umschwirrt wird von attraktiven Studentinnen. Die wohlstandslinken Ambitionen, die beide ehedem repräsentierten, hat die gemeinsame Tochter übernommen.

Bettinas ältere Schwester Huberta hingegen hat sich in die hessische Provinz zurückgezogen, wo sie, die studierte Ethnologin, ohne Frau und ohne Job, aber mit sterbendem Hund und Alkoholproblem, sich dank gelegentlicher Transferleistungen des Vaters durchfrettet.

Sebastian träumt vom maisgelben Pferdeschwanz seiner jungen polnischen Schwimmtrainerin

Der jüngste im Geschwisterbund, Sebastian, hat ein scheinbar wohlgeordnetes Leben als Verwaltungsjurist und Familienvater mit Eigenheim im Münchner Speckgürtel. Seine Ehefrau, die kroatischstämmige Mora, hat ihn in den Neunzigern dazu gebracht, Geflüchtete aus den Balkankriegen zu beherbergen. Heute jobbt sie in einer Schwabinger Edelboutique und räumt dem pubertär verstockten Sohn hinterher. Sebastian hingegen träumt vom maisgelben Pferdeschwanz seiner jungen polnischen Schwimmtrainerin.

Im Augenblick des Sich-Verliebens entdeckt dieser Mann von bald fünfzig Jahren (oder sein inneres Kind) ein zweites Ich,

„das nach Verzauberung verlangte und dem ein Schwebezustand nicht als ein Durchgangsstadium der Existenz erschien, sondern als höchste Präsenz. Im Kern der physischen Realität, so hatte er unlängst verstanden, herrschte die Unbestimmtheit, jedenfalls nichts Materielles mehr; wir bestehen nicht aus Teilchen, sondern aus Verhältnissen, aus Spannungszuständen, die unentwegt in Bewegung sind.“
(Elke Schmitter: Inneres Wetter)

Die Anwendung der Quantenmechanik auf die Psychobiografie ist der rote Faden in dieser Familienerzählung

Damit ist benannt, welches Konzept dieser Roman hinter menschlichen Beziehungen und Identitäten am Werk sieht. Die zunächst überraschende Anwendung der Quantenmechanik auf die Psychobiografie ist der rote Faden im schimmernden Gewebe dieser Familienerzählung. Schmitter, die nicht verhehlt, dass sie ihre Klassiker kennt, kann sogar das Schrödingerhafte am Wendepunkt von Fontanes „Effi Briest“ erkennen. Als nämlich Sebastian sich wünscht, er könne mit jemandem über seine Gefühle für die junge Frau sprechen:

„ (…) so, wie dieser verstockte Instetten mit seinem Kollegen geredet hat, als er aus Versehen auf die Briefe von Effi stieß. Wobei, wenn er sich richtig erinnert, genau das Reden darüber der Fehler war.“
(Elke Schmitter: Inneres Wetter)

In wechselnden Perspektiven kommen die Vorgeschichten aller handelnden Personen zur Geltung

Der Mitwisser nämlich wird zum teilnehmenden Beobachter, der die Versuchsanordnung beeinträchtigt. Diese Einschätzung wird sich später, zum großen Finale des Romans, bestätigen. Da ist der betrunkene Sebastian schon im Begriff, sich seinem fast so betrunkenen Schwager Johannes zu offenbaren, bevor einsetzender Discolärm samt aufbrandender Tanzlust in der ostwestfälischen Absturzbar alles gerade nochmal gut gehen lässt.

Elke Schmitter versteht sich als realistische Erzählerin, und so präsentiert sie neben Ansichten und Einsichten, neben Erinnerungen an längst Vergangenes auch gegenwärtiges Geschehen und gemischte Gefühle nicht nur in inneren Selbstgesprächen, sondern auch in pointierten Szenen, gut gemachten Dialogpassagen, treffenden Schilderungen, ja, in E-Mails und Notizzetteln.

Drei Teile – betitelt „Ein Tag im Frühjahr“, „Zwei Tage im Sommer“ und „Drei Tage im Herbst“ - konzentrieren die äußere Handlung bei größtmöglicher Einheit der Zeit, während in wechselnden Perspektiven die Vorgeschichten aller handelnden Personen zur Geltung kommen. Ein Verfahren, das immanent zur Ironie tendiert, die Figuren aber nur ausnahmsweise der Lächerlichkeit preisgibt.

„Treck aus dem Osten, das war das familiäre Stichwort, zu dem es keine Erläuterungen gab“

Zu Tage treten die undramatischen Kränkungen der Wirtschaftswunderkinder, die Kriegs- und Nachkriegsjugend des Vaters Georg, sogar die durchweg schlimmen Tode aller vier Großeltern und das Fluchttrauma der verstorbenen Mutter Dorothea. So, wenn Georg sich am Vorabend seines 77. Geburtstags an die Nacht der Mondlandung – ein Schlüsseldatum der Bundesrepublik - erinnert:

„Dorothea trug an diesem Abend ein Cocktailkleid aus blauer, gemusterter Seide (…) und sie tranken Sekt, nachdem die Kinder, verwirrt und begeistert, ins Bett getorkelt waren. Dass die Russen verloren hatten in diesem prestigiösen Wettlauf, erfüllte sie mit Genugtuung; die verschorfte Oberfläche einer kindlichen, blutwarmen Angst, deren Ausläufer er umfangen und behutsam streicheln, deren pochende Mitte er aber nie erkunden durfte. (…) Treck aus dem Osten, das war das familiäre Stichwort, zu dem es keine Erläuterungen gab, so dass das Beschwiegene sich diffus und unaufhaltsam ausbreitete.“
(Elke Schmitter: Inneres Wetter)

All das färbt nicht nur das Unglücksglück dieser Familie, sondern deutsche Gegenwart im Allgemeinen. Als Kontrastfolie dienen Schmitter Moras Reminiszenzen an ihre dalmatinische Herkunftsheimat. Dass diese mediterrane Welt mit ihren geordneten Sippenstrukturen allzu fraglos in Ordnung scheint, ist eine deutliche Schwäche des Romans.

Eine andere ist die Entscheidung der Autorin, die alten Geschichten um Bettinas Freundinnen aus „Leichte Verfehlungen“ halbherzig wieder aufzugreifen, was ein bisschen so wirkt, als brauche es diese aufgeregt-depressiven Mails, diese abgeklärten Telefonate, um den schmalen Roman nicht allzu schmal bleiben zu lassen.

Biografien, die nicht funktionieren, sind Thema des Romans

Die Lektüre hinterlässt, bei aller Freude an einzelnen feinen, zutreffenden Beobachtungen, die Leserin mit einer gewissen Ratlosigkeit. Sie fragt sich, warum eine so kluge Kritikerin und befähigte Autorin am Ende ihr Material nicht mit vergleichbarer Entschiedenheit fassen kann wie der Jubilar Georg; das Thema der prekär gewordenen Identitäten erledigt er, indem er bündig feststellt:

„Die Infrastruktur muss funktionieren (…), Biografien nicht.“

Mit verändertem Vorzeichen gilt dies für Elke Schmitters „Inneres Wetter“. Dass die Biografien nicht funktionieren, ist nicht das Problem des Romans, sondern sein Thema. Aber in seine Infrastruktur, um im Bild zu bleiben, hätte mehr investiert werden müssen.

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Julia Schröder