Buchkritik

Eckhart Nickel – Spitzweg

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Eine amouröse Dreiecksgeschichte, die in eine Rachefantasie mündet, und ein Kunstdiebstahl, der zum Nachdenken über die Macht der Bilder anregt. Der Roman „Spitzweg“ von Eckhart Nickel beschäftigt sich auf so artifizielle wie unterhaltsame Weise mit der Frage, was uns vergangene Kunstwelten heute noch erzählen können.

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„Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.“

Eckhart Nickel versteht sich auf geheimnisvolle erste Sätze. In seinem Debütroman „Hysteria“ heißt es zu Beginn: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“ Und dieser schlichte und in seiner Lakonie gleichsam bedrohlich wirkende Satz verleitete die Jury beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb dann auch zu literarischen Orakelsprüchen.

Und Nickels neuer Roman, der nicht nur „Spitzweg“ heißt, sondern auf dessen Cover auch das Gemälde „Der Hagestolz“ von Carl Spitzweg abgebildet ist, beginnt angesichts der Titelgestaltung mit einer seltsam lässigen Bemerkung des Erzählers:

„Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.“

Die meisten Werke, die jener offenherzige, aber keineswegs naive Abiturient bislang „zu Gesicht bekam“, sind seiner Meinung nach „entweder unansehnlich oder nichtssagend. Bisweilen auch beides zugleich.“ Was den ironischen Ich-Erzähler aber nicht davon abhält, umgehend in einen kleinen Gedankenmonolog über Sinn und Zweck von Gemälden abzudriften, in dem die zentralen Themen des Romans aufscheinen.

„Bevor ich eine Landschaft an die Wand hänge, blicke ich doch lieber durch ein Fenster auf sie hinaus. Und wenn mir danach sein sollte, einen Menschen zu sehen, bringe ich genau dort einen Spiegel an. Kunst versucht oft, beides zu sein, Fenster wie Spiegel, und kann doch weder das eine noch das andere ersetzen. Gerade, wenn sie versucht, das Leben wirklichkeitstreu abzubilden, zeigt sich das Ausmaß ihres Scheiterns besonders deutlich.“  
(Aus: Eckhart Nickel: Spitzweg)  

Kurioserweise ist Nickels Literatur genau das: nämlich Fenster und Spiegel zugleich. Anstatt aber irgendeine „realistische“ Wirklichkeit abbilden zu wollen, erkundet Nickel die Welt, indem er die menschengemachten Übergänge der Natur ins Künstliche beschreibt. Die Himbeeren aus „Hysteria“ kommen nicht mehr vom Strauch, sondern aus einem Labor von Ökofundamentalisten, die meinen, nur die synthetische Fabrikfrucht schade der Umwelt nicht.

Nickels Romangemälde ist ein kleinteiliges Erzähllabyrinth

Nickels neuer Roman lässt sich daher auch als gewitzte Spiegelung des Vorgängerwerks lesen. Denn in „Spitzweg“ wird die Kunst zur zweiten Natur der Hauptfiguren, was sich auch literarisch niederschlägt: Alles wirkt in diesem Text artifiziell, die Szenen gleichen Spitzweg-Miniaturen mit vielen Details, die sich keineswegs auf Anhieb erschließen.

Auch Nickels Romangemälde ist ein kleinteiliges Erzähllabyrinth, in dem es viele Abzweigungen gibt, erstaunliche Nebenstränge und Reflexionen, die sich erst bei einer erneuten Lektüre zu einem Gesamtkunstwerk fügen.

Der begabten Schülerin erklärt die Kunstlehrerin, sie habe „Mut zur Hässlichkeit“ bewiesen

Die Handlung – falls man überhaupt von einer solchen sprechen möchte – beginnt mit einem missverständlichen Urteil von Frau Hügel, der strengen Kunstlehrerin. Die Schülerinnen und Schüler sollen ein Selbstporträt anfertigen. Kirsten, das „einzige Talent“ der Klasse, kann schon bald eine „nahezu vollendete Zeichnung“ vorlegen. Frau Hügel aber erklärt mit „tonloser Stimme“, Kirsten habe „Mut zur Hässlichkeit“ bewiesen. Was die sensible Schülerin gar nicht lustig findet.

„Kirsten schluckte in die unmittelbar eingetretene Stille hinein. Nach einer ins Unerträgliche gedehnten Pause, in der alle wie gelähmt auf sie starrten, stand sie auf und rannte mit vor die Augen geschlagenen Händen nach hinten aus dem Kunstraum in das steinerne Treppenhaus.“
(Aus: Eckhart Nickel: Spitzweg)  

Immerhin wird die begabte Kirsten von zwei Mitschülern angehimmelt. Neben dem namenlosen Erzähler hat auch der charismatische Carl ein Auge auf die junge Dame geworfen, wobei nicht klar ist, was dieser offenbar universal gebildete Jüngling eigentlich im Schilde führt. Seine Freizeit verbringt er vorwiegend in einer dunklen Dachkammer, die er „Kunstversteck“ nennt.

„Was mich am meisten beeindruckte, war der unvergleichlich angenehme Geruch des Raums, der offensichtlich keinerlei Fenster besaß. Es war eine Mischung aus Holz und kaltem süßlichen Weihrauch, die nach Honig, Wald, Tabak und Zeder zugleich duftete (…).“
(Aus: Eckhart Nickel: Spitzweg) 

Was in diesem Roman ein Original, eine Nachahmung oder gar eine Fälschung ist, bleibt immer in der Schwebe

Ein wenig erinnert die Stimmung in diesem Kunstversteck an Carl Spitzwegs berühmtes Gemälde „Der arme Poet“. Tatsächlich besitzt die Romanfigur Carl eine verblüffend perfekte Kopie eines anderen Spitzweg-Bildes, nämlich jenen „Hagestolz“, der einen Junggesellen mit Zylinder in einer Rückenansicht zeigt, wie er spazierenden Paaren hinterherschaut. Angeblich hat Carls Mutter die Spitzweg-Kopie angefertigt, aber was in diesem Roman ein Original, eine Nachahmung oder gar eine Fälschung ist, bleibt immer in der Schwebe.

Mit jedem Satz ergeben sich neue Fragen: Welche Bedeutung hat die Figur des Einzelgängers heute noch oder schon wieder? In welcher Zeit spielt Nickels Roman überhaupt? Die Geschichte scheint in der Gegenwart angesiedelt zu sein, und doch wirkt die Erzählhaltung aus fernen Zeiten zu stammen. Die alten Gemälde der Romantik jedenfalls, das lehrt uns der kunstsinnige Roman, können auch heute noch eine große Wirkmacht entfalten.

Der Erzähler möchte weder seine exklusive Freundschaft zu Carl noch seine zarten Gefühle für Kirsten aufgeben

In Carls Kunstversteck werden die Gäste nicht nur in geistreiche Gespräche über Musik, Literatur und eben Kunst verwickelt, hier denken sich die Freunde auch einen durchtriebenen Racheplan aus, um es der Kunstlehrerin heimzuzahlen. Dass Carl sich zunehmend für Kirsten interessiert, gefällt dem Dritten im Bunde aus doppeltem Grund nicht.

Der Erzähler möchte weder seine exklusive Freundschaft zu Carl noch seine zarten Gefühle für Kirsten aufgeben. Aber vielleicht liegen diesen Eifersüchteleien auch nur Fehlinterpretationen zugrunde, und Carl ist tatsächlich eine Art Hagestolz, der dem berühmten Gemälde entsprungen ist.        

„Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er (…) zu den Menschen gehörte, die eigentlich schon die Tatsache, dass es so etwas wie das Geschlechtsleben gibt, kolossal befremdet.“
(Aus: Eckhart Nickel: Spitzweg) 

Am Ende wartet ein furioses Finale samt Verfolgungsjagd im Museum

So intellektuell der Roman angelegt ist, lässt Nickel zum Ende doch noch Spannung aufkommen. Bis zum furiosen Finale samt Verfolgungsjagd im Museum aber darf es noch um Kunstdiebstahl, Kunstvernichtung und um einen Deutschlehrer gehen, der zum Lesen in den Keller, nämlich in einen perfekt temperierten und angenehm ausgeleuchteten Bücherbunker geht. Auch dieser Dr. Fant ist ein „völlig abseitiger Kauz“, eine gebrochene, aber gleichsam glitzernde Spiegelfigur, die keine Fenster, sondern nur noch Literatur braucht, um in die Welt zu schauen. Wir alle, so begreift der Erzähler, suchen uns geheime Kunstverstecke, selbst wenn wir mit Gemälden nichts mehr am Hut haben.

„Spitzweg“ ist eine herrlich überdrehte Feier des Eigensinnigen, der fantastischen Schönheit in einer bei allem Globalübel gar nicht so hässlichen Welt. Dabei verkörpert der titelgebende Spitzweg eine Geisteshaltung, die gängige Zeiträume überwindet und bekannte Geschmacksurteile revidiert. Um alle Details dieses so fulminanten Romans zu beschreiben, bräuchte es wiederum einen Text in Romanlänge. Passenderweise ist dem Buch ein Zitat von Carl Spitzweg vorangestellt, das auch das Schreibmalen des Schriftstellers Eckhart Nickel erklärt.

„Jede Linie mit Verstand, alles durchdacht, das Uninteressante interessant.“  

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