Christoph Peters: Dorfroman (Foto: Pressestelle, Verlag Luchterhand | Foto: © Peter von Felbert)

Buch der Woche

Christoph Peters - Dorfroman

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AUTOR/IN
Christoph Schröder

Ein Dorf am Niederrhein, in dem der geplante Bau eines Atomkraftwerks alles auf den Kopf stellt. Auch die Gefühle des jungen Ich-Erzählers. Christoph Peters‘ „Dorfroman“ ist das Panorama einer Epoche.

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Was ist „Zuhause“ und wie fühlt es sich an?

Ein Mann fährt nach Hause, in das Dorf am Niederrhein, in dem er aufgewachsen ist und in dem seine alten, mittlerweile über 80jährigen Eltern noch leben. Aber ist dieses Hülkendonck, wie der Ort heißt, wirklich noch sein Zuhause?

Er betrachtet die Landschaft, registriert die verfallenen Industriehallen, die neu gebauten Umgehungsstraßen – und den bunt angemalten Kühlturm des Schnellen Brüters, der bereits vor Jahren in einen Freizeitpark umgewandelt wurde. Wie eine Folie legt sich die Erinnerung auf die Realität. Die Gefühle des Mannes, der nur für einen Kurzbesuch aus Berlin angereist ist, sind ambivalent:

Obwohl ich seit dreißig Jahren nicht mehr hier wohne, scheint mir alles vertraut, als wären es meine Besitzungen. In Wirklichkeit ist fast nichts mehr so wie zu der Zeit, als ich hier gelebt habe.

Gegen den Bau des Schnellen Brüters gibt es Widerstand

Hülkendonck ist, wie die anderen Ortsbezeichnungen im Roman auch, ein fiktiver Name, und doch wird schnell klar, dass der „Dorfroman“ genau dort angesiedelt ist, wo Christoph Peters selbst 1966 geboren wurde: Kalkar am Niederrhein, im Roman nach alter Schreibweise mit „C“ geschrieben. Das eingemeindete Dorf Hönnepel verwandelten sich zu Beginn der 1970er-Jahre von einem unbeachteten, überwiegend bäuerlich bewirtschafteten Randgebiet mit hoher Plumpsklodichte zu einem ideologischen Kampfschauplatz der alten Bundesrepublik.

Hier sollte am Rheinufer ein Atomkraftwerk gebaut werden, der so genannte Schnelle Brüter. Über die Landesgrenzen hinaus regte sich Widerstand, der als ein Ausgangspunkt der ökologischen Bewegung gilt.

Der Schriftsteller Christoph Peters (Foto: Pressestelle, Luchterhand Verlag)
Christoph Peters

Christoph Peters erzählt von diesem Kampf und spiegelt ihn zugleich in der persönlichen Entwicklung und in den inneren Brüchen und Widersprüchen seines Protagonisten.

Erzählt wird auf drei geschickt ineinander verzahnten Zeitebenen

Der „Dorfroman“ ist kapitelweise abwechselnd auf drei zeitlichen Ebenen erzählt: Die erste in den frühen 1970er-Jahren zeigt den Erzähler, der im gesamten Roman keinen Namen bekommt, im Grundschulalter, in dem der Junge in aller Naivität dem Fortschrittsoptimismus seines Elternhauses folgt.

Als pubertierender Fünfzehnjähriger schließt er sich auf der zweiten Erzählebene der Anti-Atombewegung an, um schließlich in der Gegenwart das Geschehen aus übergeordneter Position zu reflektieren.

Motivisch und thematisch hat Peters diese Ebenen geschickt ineinander verzahnt. Das hat den Effekt, dass sich vermeintliche ideologische Gewissheiten und emotionale Sicherheiten in Luft auflösen, weil sie immer wieder aus einer anderen Erzählperspektive reflektiert und hinterfragt werden.

Wohlstand für die Kinder durch Atomenergie

Der Vater des Ich-Erzählers ist von Beruf Monteurmeister, repariert die Landmaschinen auf den Bauernhöfen der Gegend und ist darüber hinaus im Kirchenvorstand tätig. Das Land, auf dem der Schnelle Brüter gebaut werden soll, gehört der Kirche. Der Vater plädiert vehement für den Verkauf. Er glaubt an die atomare Energiegewinnung als ein Symbol des Fortschritts und des Wohlstandes, den er seinen Kindern sichern will:

Als mein Vater unser Haus gebaut hat, war er überzeugt, ein Geschlecht zu begründen, dem eine bessere Zukunft als seine eigene zwischen Pferdepflug, Schweinescheiße und Krieg offenstünde.

Am Streit um das Atomkraftwerk zerbrechen Freundschaften

Peters‘ Roman ist ein ungemein unterhaltsames und zugleich vielschichtiges Buch: Es zeigt im dörflichen Mikrokosmos ein in ideologischen Verwicklungen und in der Rhetorik des Kalten Krieges gefangenes Land.

Der Streit um das Atomkraftwerk spaltet nicht nur eine Republik – über ihn zerbrechen auch im Dorf gewachsene und funktionierende Strukturen, Freundschaften oder auch Geschäftsbeziehungen. Und selbst innerhalb der Familie werden feine Risse sichtbar.

Katholizismus und Konservativismus erzeugen ein Klima des Misstrauens

Eine hoch interessante Figur ist die Mutter des Erzählers, die 1959 als Lehrerin aus der Stadt nach Hülkendonck versetzt wurde und hier nie ganz heimisch geworden ist. Trotzdem erfordern die Zwänge und Konventionen der Epoche ihre widerspruchlose Zustimmung. Überall im Dorf, und das fängt Christoph Peters glänzend ein, verbinden sich alternativloser Katholizismus und konservative Kampfansagen zu einem Klima des Misstrauens:

Tante Rieke sagt, dass diese Leute, die jetzt von auswärts kommen, um gegen den Brüter zu kämpfen, auch an die Ideen des Kommunismus glauben, was man leicht an ihren Kleidern und ihren Haaren erkennen kann. Selbst bei denen, die nicht direkt zur Baader-Meinhof-Bande gehören, müsse man vorsichtig sein.

Ein präzises und anschauliches Epochenpanorama

„Dorfroman“ ist in seiner Sprache gradliniger und weniger verspielt erzählt als frühere Bücher von Christoph Peters. Das ist eine bewusste Entscheidung und kluge Entscheidung. In aller Klarheit tritt hervor, was dieser Autor alles kann: Peters hat einen ausgezeichneten Blick für sprechende Details.

Das Epochenpanorama, das er entwirft, ist präzise und anschaulich. Die Welt aus Fernsehserien, Heinz-Sielmann-Begeisterung, Nachbarsdackeln, Fußballeridolen, Statussymbolen, Musikgruppen und Jugendbüchern, die Peters quasi nebenbei aufbaut, hat nichts Nostalgisches, nichts Kulissenhaftes. Jedes Detail hat Substanz und eine Funktion, jede Erinnerung einen späteren Widerhall. Die Dingwelt ist emotional aufgeladen.

Der Ich-Erzähler begegnet der sieben Jahre älteren Juliane

Darüber hinaus kann Peters ganz und gar unkitschig und treffgenau über das Erwachen jugendlicher Liebe schreiben. Der schlaue, aber schüchterne, in seiner Herkunft gefangene, Schmetterlinge sammelnde Ich-Erzähler begegnet eines Tages der sieben Jahre älteren Juliane, die für die Dorfkinder schon immer eine mythische Figur war.

Sie hat sich der Protestbewegung gegen das Atomkraftwerk angeschlossen und lebt in einer Scheunenkommune. Juliane ist es, die in Peters‘ Protagonisten endgültig einen Bewusstseinswandel auslöst, zum Leidwesen seiner Eltern. Juliane ist es aber auch, die in einem dunklen Moment die Vergeblichkeit des ökologischen Aktivismus formuliert:

Es bringt nichts. Ganz egal, was wir anleiern. Weil es zu spät ist. Einfach zu spät. Nicht nur unsere Eltern und die kapitalistischen Bonzen. Wir alle. Du und ich genauso. Wir kommen da nicht mehr raus. Wenn wir die Gesellschaft ökologisch umbauen, gehen erstmal tausend Firmen pleite, die Leute verlieren ihre Arbeit und wählen irgendwelche Nazis.

Spätestens hier zeigt sich, dass der „Dorfroman“ kein historisches Buch ist, sondern im Gegenteil deutsche Kontinuitäten in einer Zeitschleife vorführt.

Der Schnelle Brüter wurde zwar gebaut, doch er ging niemals ans Netz. Die Heilsversprechen der Atomwirtschaft haben sich in Hülkendonck in Streit und ökonomische Debakel aufgelöst.

Herkunft lässt sich nicht durch ein neues Zuhause wegwischen

Der Ich-Erzähler wird nur wenige Tage zu Besuch bei seinen über 80jährigen Eltern bleiben und bei seiner Abreise das Gefühl haben, das Falsche zu tun.

Herkunft, so die letzte Erkenntnis, lässt sich nicht durch ein neues Zuhause wegwischen. Es geht in diesem Roman nicht zuletzt auch darum, wer für wen Verantwortung trägt und ob man sich davon lösen kann.

Christoph Peters ist einer der größten Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sein zwischen Melancholie, Erkenntnis und Ernüchterung mäandernder „Dorfroman“ beweist das aufs Neue.

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Christoph Schröder