Buchkritik

Jan Philipp Reemtsma – Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Eine Biographie

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AUTOR/IN
Judith Reinbold

Christoph Martin Wieland war einer der wichtigsten deutschen Autoren der Aufklärung. Doch im Gegensatz zu Goethe, Schiller und Co. kennt ihn heute kaum noch jemand. Jan Philipp Reemtsma erinnert mit seiner akribischen Biografie an einen der vielseitigsten Schriftsteller und Philosophen des 18. Jahrhunderts – und preist Wieland als Erfinder der modernen Literatur.

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Wer durch Biberach spaziert, dem begegnet Christoph Martin Wieland überall: Vor der Stadthalle eine Wieland-Büste, die Eselskulptur am Marktplatz erinnert an Wielands „Der Prozess um des Esels Schatten“ und wenige Schritte vom Wieland-Park befindet sich das Wieland-Gymnasium. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Kerstin Bönsch kennt den Schriftsteller und sein umfangreiches Werk besonders gut.

„Zum Beispiel hat er den ersten deutschen Bildungsroman verfasst, die Geschichte des Agathon, er hat die erste Novellendefinition gegeben. Er hat sich außerdem als Übersetzter betätigt, er hat Shakespeare übersetzt. Und wäre das alles nicht genug, hat er sich auch noch als Journalist und Herausgeber hervorgetan. Er hat nämlich die auflagenstärkste und langlebigste Zeitschrift des 18. Jahrhunderts herausgegeben, den Teutschen Merkur.“

Kerstin Bönsch leitet das Wieland-Archiv in Biberach, in dem etwa 16 000 Bände des Literaten versammelt sind: Übersetzungen, Verserzählungen, Romane und auch seine Handbibliothek befinden sich in dem roten Backsteingebäude. Außerdem lagern dort rund tausend Briefe und Handschriften sowie 900 Bilder und andere Objekte.

„Christoph Marin Wieland ist ja relativ alt geworden für die damalige Zeit, etwa 80 Jahre. Das heißt, er hat auch sehr viele Literaturepochen durchlaufen, er hat sie miterlebt und auch mitgeprägt. Und das macht sein Werk sehr, sehr vielfältig und vielseitig.“

Anfangs blieben Wieland für seine literarische Arbeit allerdings nur wenige freie Stunden am Tag. Hauptberuflich war er Beamter in der Juristerei. In einem kleinen Gartenhäuschen am Rande der Stadt fand er die nötige Ruhe zum Schreiben.

In einem etwas einsamen Orte […] bringe ich des Sommers meine meisten müssigen Stunden zu, solus cum sola, aber ganz allein mit den Musen, Faunen und Grasnymphen, derer ich von Zeit zu Zeit einige im Gesicht habe.“

Tatsächlich gibt es dieses kleine pfirsichfarbene Häuschen noch immer. Darin befindet sich das Wieland-Museum. Im Obergeschoss kann man seine Arbeitsstätte besichtigen. Hier entstanden etwa die „Komischen Erzählungen“, die „Geschichte des Agathon“ und der „Don Sylvio“. Für Jan Philipp Reemtsma allesamt große Sprachkunstwerke.

Wieland sei ein Begründer der modernen deutschen Literatur, schreibt Reemtsma in seiner Wieland-Biografie. Das knapp 700 Seiten umfassende Werk erscheint diese Woche, ein Ergebnis der jahrzehntelangen Auseinandersetzung Reemtsmas mit Wieland.

Der schrieb nicht nur eigene Verserzählungen und Romane, sondern war auch als Übersetzer tätig. 22 von 37 Dramen übersetzte er ins Deutsche – und verfehlte sein Ziel, alle zu übersetzen, damit nur knapp. Im Biberacher Komödienhaus fand die deutsche Uraufführung von Shakespeares „Sturm“ statt. Kerstin Bönsch zieht das Werk aus dem Regal.

„Ich hab‘ einfach mal eine schöne Passage mitgebracht, die Sie vielleicht auch kennen, weil das eine Zitat sehr bekannt ist. Und zwar lautet es in Wielands Übersetzung: Wir sind solcher Zeug, woraus Träume gemacht werden und unser kleines Leben endet sich in einem Schlaf.“

Neben Shakespeare hatte Wieland noch eine zweite große Leidenschaft: Die griechische Mythologie. Eines von Frau Bönschs Lieblingswerken ist die Verserzählung Musarion, in denen Christoph Martin Wieland, wie so oft, mythologische Motive und Figuren aufgreift. In diesem Fall ein Philosophenstreit um das rechte Maß im Leben, den die Hetäre Musarion schlichtet.

„Die wahre Philosophie sozusagen, und das finde ich auch sehr modern und gewagt zu der Zeit, bringt dann den Herren Musarion bei, also die Hetäre, die dann für eine Philosophie der Mitte einsteht, wo es um Balance geht, Perspektivwechsel und nicht die Welt in Schwarz und Weiß einzuteilen. Das finde ich ganz spannend, weil sich Wieland hier gegen jedweden Dogmatismus ausspricht.“

Indessen wird, so sichtbar als es war,
Den beiden Weisen doch davon nichts offenbar,
Ob sie die Schöne gleich mit großen Augen messen.
Die Herrn dieser Art blendet oft zu vieles Licht;
Sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Im 18. Jahrhundert ist Christoph Martin Wieland einer der wichtigsten Autoren der Aufklärung. Doch von seinen idealistischen Texten wie dem Musarion-Gedicht sind im kollektiven Gedächtnis vor allem Sprichworte und Sprachbilder geblieben. Warum sind Goethe, Schiller und Lessing heute noch präsent und Wieland fast vergessen?

„Ich denke, das ist ein Zusammenspiel aus mehreren Gründen. Ich könnte mir vorstellen, dass es daran liegt, dass Wieland auf den Theaterbühnen nicht präsent ist. Er gehört leider auch nicht zur Schullektüre und, was man schon auch sagen muss, Wieland macht auch Anspielungen an die griechische Philosophie oder Mythologie und das ist auch für den Bildungsbürger heute nicht mehr so leicht zu verstehen, wie es vielleicht im 18. Jahrhundert noch der Fall gewesen sein mag.“

Auch Wieland-Biograf Jan Philipp Reemtsma meint, wer sich mit Wielands Werk beschäftige, müsse sich für vieles interessieren. Und trotzdem solle man sich unbedingt auf dieses Abenteuer einlassen.

Seine detaillierte Biografie ist vor allem für diejenigen eine gute Begleitung, die richtig tief in den literarischen Kosmos von Wieland abtauchen möchten. Reemtsma analysiert die Schriften sehr genau, ordnet sie historisch und literaturgeschichtlich ein und arbeitet dabei mit zahlreichen Querverweisen.

Dass der schwäbische Kosmopolit Wieland ein außerordentlich moderner Autor war, zeigt sich aber auch in biografischen Anekdoten. So schreibt er seiner Cousine und Geliebten Sophie la Roche mehr als Mentor, denn als Dichter, weil er sie nicht zur Geliebten eines Schriftstellers machen will, sondern zur Autorin. Obwohl sich Wieland seiner eigenen Fehler, etwa bei den Shakespeare-Übersetzungen, durchaus bewusst war, wusste er auch um seine literarischen Fähigkeiten. Mit seiner Biografie erinnert Jan Philipp Reemtsma daran, dass Wielands Werk nach wie vor ein besonderes ist.

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