Literatur

Über die Angst in der Haft: „Agentterrorist“ von Deniz Yücel

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AUTOR/IN
Holger Heimann

In der Türkei sitzen zahlreiche Journalisten aufgrund dubioser Anklagen im Gefängnis. Doch kaum ein Fall hat für so viel Aufmerksamkeit gesorgt wie der des Deutsch-Türken Deniz Yücel, der Korrespondent der Berliner Tageszeitung „Die Welt“ war. Yücel kam im Vorjahr frei und hat ein Buch über sein Jahr hinter Gittern geschrieben. Eine beeindruckende Erinnerung an die Angst in der Haft und den Willen zum Widerstand.

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Deniz Yücel als „Terrorist“ und „Volksverhetzer“

Die ersehnte Nachricht kommt im Februar 2018: Deniz Yücel soll freigelassen werden. Zu diesem Zeitpunkt sitzt der deutsch–türkische Journalist bereits ein Jahr in verschiedenen Gefängnissen in Istanbul in Haft. Von der türkischen Regierung wurde er wahlweise als Agent, als Terrorist und als Volksverhetzer bezeichnet. Staatspräsident Erdoğan hatte versprochen, dass Yücel niemals ausgeliefert werden würde. Nun also die Wende. Die Unterstützer des inhaftierten Korrespondenten jubeln.

Doch einer macht nicht mit: Deniz Yücel. In einem Brief an seine Frau, die er im Gefängnis geheiratet hat, erklärt er warum: „Wenn die türkische Staatsführung sich etwas davon verspricht, mich zu verhaften, werde ich verhaftet. Und wenn sie sich etwas davon verspricht, mich freizulassen, komme ich raus. Und dazu soll ich nichts sagen? So lasse ich nicht mit mir umspringen.“

Nicht zum Spielball türkischer Willkür werden

Nachzulesen ist der Brief in dem gerade erschienenen Buch, in dem Yücel von seiner Haftzeit erzählt. Die Zeilen sind charakteristisch. Der bekannte Häftling will nicht zum Spielball türkischer Willkür und eines irgendwie gearteten politischen Deals werden. Ihm ist klar, dass die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, haltlos sind. Er ist lediglich seinem Job als Journalist nachgegangen, hat über den Kurdenkonflikt und den Putschversuch berichtet. Doch er weiß auch, dass in der Türkei unter Erdoğan Menschen für weit weniger hinter Gittern verschwinden und vergeblich auf eine Anklageschrift warten. Yücel lehnt es trotzdem ab, das Gefängnis durch die Hintertür zu verlassen. Wenig später kommt er zu seinen Bedingungen frei.

Während seiner Haftzeit hat Deniz Yücel immer wieder Texte nach draußen geschmuggelt. Sie sind in der „Welt“ und in dem Band „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“ erschienen. Das aktuelle Buch stützt sich auf diese früheren Aufzeichnungen, aber Yücel füllt nun auch die Lücken, erzählt das, was der Öffentlichkeit bislang verborgen war. Dazu zählen die Wochen, da er versteckt in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters lebte ebenso wie markante Begebenheiten seines Gefängnisalltags, der geprägt ist vom Kampf um Selbstbestimmung.

Pathos ist Erinnerungen von Deniz Yücel nicht fremd

Für eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verfasst Yücel auf Empfehlung seines Anwalts einen detaillierten Bericht, kurz und genau soll er sein: „Noch nie habe ich so viel mit der Hand geschrieben. Als ich endlich fertig bin, habe ich Schwielen im Handballen und am Mittelfinger. Im Gefängnis werde ich diese Schwielen nie loswerden, es werden sogar welche hinzukommen. Und ich werde sie mit demselben Stolz präsentieren, mit dem Kriegsveteranen ihre Schussverletzungen vorzeigen.“

Solches Pathos ist diesen Erinnerungen keineswegs fremd. Aber Yücel spart auch die dunklen Momente nicht aus. Er erzählt davon, wie er die anfängliche Isolationshaft kaum mehr erträgt, wie ihm die Einsamkeit zusetzt, ihn überempfindlich macht. Und er schreibt vom Schlimmsten, was ihm während der Haft widerfahren ist. „Die sechs stürmen rein. In den Innenhöfen sind, ebenso wie auf den Korridoren, Kameras installiert. Aber nicht in den Zellen. Und hier bin ich jetzt allein mit diesen Typen. Allein und ungeschützt. Sie könnten mich jetzt schlagen, vergewaltigen, was sie wollen. Panik.“

Sechs Wächter schlagen und drangsalieren Deniz Yücel tagelang

Die sechs offenbar instruierten Wärter werden Yücel tagelang drangsalieren. Sie schlagen ihn, drohen ihm offen mit noch brutalerer Gewalt. Und sie befehlen ihm, mit gesenktem Kopf über die Gefängnisgänge zu laufen. Yücel ist anfangs so verängstigt, dass er der Aufforderung Folge leistet. Er wird sich das im Nachhinein vorhalten: „Ich habe den Kopf gebeugt. Zwei Tage lang.“ Doch bezeichnend für die von Deniz Yücel rekapitulierte Haftzeit ist das Gegenteil: Dieser Gefangene lässt sich nicht dauerhaft einschüchtern, sein Widerstandswille wird in der Zelle eher zunehmen. Eine Beobachterin hat es trefflich formuliert: „Diesen Autor kann man nicht wegsperren. Man hat weniger Ärger mit ihm, wenn man ihm seine Freiheit gibt.“

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Holger Heimann