Neues Buch des Ex-Außenministers zur Zukunft Europas

Joschka Fischer: Der Abstieg des Westens

Stand

Am 8.3.2018 von Claus Heinrich

Ex-Außenminister Joschka Fischer beschäftigt sich seit seiner Demission 2005 hauptsächlich in Buchform mit seinem Leib- und Magenthema: Was wird aus Deutschland in Europa? Mit dem düsteren Titel: „Der Abstieg des Westens“ etabliert sich Fischer endgültig als Helmut Schmidt für strategisch interessierte Linksliberale.

Überall lauern Gefahren

Es sieht nicht gut aus für den alten Kontinent. China wird die neue Supermacht im Osten und bildet ein Duopol mit den Amerikanern, die sich endgültig von Europa abwenden.

Russland dilettiert weiter gefährlich vor sich hin. Aus dem Nahen Osten und dem nördlichen Afrika drohen Terror und weitere Migrationsschübe. Überall lauern Gefahren.

Der Abstieg des Westens ist unvermeidlich

Der technologische Anschluss an das 21. Jahrhunderts ist bereits verloren gegangen. Der Abstieg des Westens in der neuen multipolaren Welt ist unvermeidlich. Die Frage ist nur, wie unangenehm dieser Prozess sein wird. Und wie er endet.

Die Antwort des notorischen Europäers Joschka Fischers auf all diese Probleme lautet wie seit über 20 Jahren auch diesmal: mehr Europa wagen.

Vereinigte Staaten von Europa: ein chancenloses Modell

Zwar redet er noch allenfalls indirekt von seinem Traum von den Vereinigten Staaten von Europa. Aber er weiß, dass mehr als ein Staatenbund in den neonationalistischen Zeiten, in denen wir leben, derzeit chancenlos ist. „Die Zukunft der EU und ihrer Demokratie wird sich also in der für uns überschaubaren Zeit im Rahmen des Staatenverbundes abspielen müssen und nicht im Rahmen eines Bundesstaates, leider.“

Ohne Kooperation ist Europa verloren

Aber Fischer sagt ebenso klar: ohne europäische Kooperation sind wir, das wohlhabende und demokratische Europa, in der Welt des 21. Jahrhunderts rettungslos verloren.

Das schreibt er vor allem seinem deutschen Publikum ins Stammbuch, in dem er offenbar noch immer die altdeutschen Überlegenheitsgefühle vermutet, die durch die deutsche Sonderkonjunktur der letzten Jahre reichlich neue Nahrung bekommen haben.

Europa der zwei Geschwindigkeiten

Da wohl neben den bereits ausgestiegenen Briten auch manche Osteuropäer mit einer weiteren Vertiefung Europas nicht einverstanden sein werden, bleibe nichts anderes übrig als an einem Europa der zwei Geschwindigkeiten zu arbeiten.

Mit einer frisch renovierten deutsch-französischen Achse, versteht sich: „Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist keine Absage an ein gemeinsames Europa, ganz im Gegenteil ist es ein Ja zur Erneuerung der EU. Je erfolgreicher sich dieser Prozess entwickeln wird, desto mehr Mitgliedstaaten werden sich ihm anschließen und Europa erneut zusammenführen.“

Zusammenarbeit der nationalen Regierungen

Fischer setzt bei diesem avantgardistischen Europa auf die Zusammenarbeit der nationalen Regierungen und nicht auf ein gestärktes europäisches Parlament. Ein entscheidender Webfehler, denn die nationalistischen Europagegner können dann wieder mal zu recht argumentieren: dieses Europa ist nicht demokratisch.

Fischer malt schwarz-weiß: hier die demokratischen, weltoffenen Liberalen, dort die autoritären, neonationalistischen Nostalgiker, die die deutsche Geschichtslektion einfach vergessen haben.

Ethnisch-Identitäre oder europäische Staatsbürger?

Er verlangt eine riskante Entweder-oder-Entscheidung: „Bei der großen innenpolitischen Auseinandersetzung mit dem Neonationalismus wird es daher vor allem um die Definition des Wir gehen: Wird es ethnisch-identitär und demnach exklusiv sein oder verfassungspatriotisch-staatsbürgerlich und damit europäisch und inklusiv?“

Fischer verweigert den Entwurzelten und Verzweifelten also das Recht auf eine selbstgewählte Identität, indem er einen europakompatiblen Verfassungspatriotismus zur Leitkultur erhebt.

So autoritär wie jede übertriebene Political Correctness

Das aber ist so autoritär wie jede übertriebene Political Correctness. Glaubt Fischer am Ende selbst nicht mehr an den Sieg des liberalen Prinzips? „Die globale Klimakrise und die notwendige Effizienzrevolution beim Ressourcenverbrauch werden mehr digitales Monitoring und damit Überwachung erfordern, die andererseits zu mehr Kontrolle und damit individuellem Freiheitsverlust führen wird. Dieser Trend wird das autoritäre chinesische Modernisierungsmodell zulasten des freiheitlich westlichen stärken.“

Changieren zwischen den USA und Asien

Vielleicht ist diese vermutete Stärke der wahre Grund dafür, warum Fischer Europa ein geschicktes Changieren zwischen der ohnehin schon gelockerten transatlantischen Bindung und der sich anbahnenden asiatischen Orientierung empfiehlt.

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SWR