Verse vom Seziertisch
Bevor Gottfried Benn in den 40er und 50er Jahren Berühmtheit als Dichter erlangte, begann er mit skandalösen Versen. Im Alter von 26 Jahren, als junger Medizindoktorand im Jahr 1912, sorgte er mit dem Gedicht „Kleine Aster“ für Furore:
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
lrgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
Benn hatte in den sogenannten „Morgue“-Gedichten seine Übungen im Anatomiesaal verarbeitet. Deren Pathos passte durchaus zu der Atmosphäre, die den Vorabend des 1. Weltkriegs prägte. Die „kleine Aster“, die Blume aus der Natur, die Momente von Innerlichkeit und Versenkung wachruft, wird hier mit dem Tod konfrontiert, mit dem nüchternen Geschehen beim Sezieren von Leichen: es geht um das genaue Gegenteil von Romantik.

Zwischen Nationalsozialismus und Anarchie
Während der gesamten Zeit der Weimarer Republik betreibt Gottfried Benn seine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten weiter. Doch seine Karriere als Dichter floriert. Er eignet sich einen unverwechselbaren Ton an, erkundet in seinen Gedichten vergangene Universen und spielt gern mit geheimnisvollen Fremdwörtern.
Zwar denkt er politisch, aber durchaus auch aufwieglerisch. So setzt sich für die Abschaffung des Schwulenparagraphen ein und lehnt das Abtreibungsverbot ab.
Dass er sich für eine kurze Zeit dem Nationalsozialismus andient, hat viel mit seinem Begriff von Kunst zu tun, er bekämpft das egalitäre Denken der Linken. Doch schon ein Jahr nach der Machtübergabe an Hitler bemerkt er seinen Irrtum. Sein Band „Ausgewählte Gedichte“ wird wegen seiner anarchischen Sprengkraft Mitte der dreißiger Jahre kurz nach der Veröffentlichung verboten. Benn gibt seine Arzt-Praxis auf, bewirbt sich bei der Heeres-Sanitäts-Inspektion in Hannover und verlässt Berlin.

Die Erfahrung des Nationalsozialismus führt bei Benn zu einer Verachtung der Masse, der geschichtlichen Abläufe, des Menschengeschlechts an sich. Alles, was bleibt, ist die Kunst. Der Arzt und Schriftsteller verschreibt sich seit Mitte der dreißiger Jahre einer Art von Zeitlosigkeit. Eines seiner berühmtesten Gedichte heißt „Astern“, wird 1936 zu Papier gebracht und lässt jene frühe „Kleine Aster“ weit hinter sich. Gedichte wie „Astern“ sind der Grund dafür, dass Gottfried Benn nach dem Krieg sehr schnell berühmt wird und 1951 als erster den neu geschaffenen Georg-Büchner-Preis bekommt.
Benn und die Blumen
Der späte Benn widmet sich mit auffälliger Inbrunst den Blumen. Sie dienen als Modelle der Seinsvergewisserung. Neben der Aster lässt er Polster von Erika, Forsythien und Ebereschen in seinen Gedichten gedeihen. Am liebsten ist Gottfried Benn aber auf jeden Fall die Rose. Die Rose tritt bei ihm in vielen Erscheinungsformen auf, in vielen Gefühlsschattierungen und Farbnuancen.
Benns Gedichte entsprechen nach 1945 einem breiten Bedürfnis. Er sucht nach einem exklusiven Begriff des Ästhetischen, und seine Gedichte beziehen ihre Dynamik daraus, der Geschichte und dem menschlichen Tun Sinn abzusprechen.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Solche Zeilen wirken für die Deutschen nach 1945 wie die Befreiung von einer schweren Last. „Das gezeichnete Ich“: da ist auch viel Trotz dabei und Selbstbehauptung, angesichts des unmittelbar zurückliegenden Nationalsozialismus, der als Schicksal wahrgenommen wird. Man fühlt sich als Opfer, nicht als Täter.

Wegwerfende Handbewegung
In den fünfziger Jahren der Bundesrepublik sind Benns freie Rhythmen, sind seine Alltagssprache und sein sachliches Konstatieren der Gegebenheiten höchst ungewöhnlich. Hohes und Niedriges mischen sich bei ihm fast schon programmatisch. Er versteht sich auf Ode und Hymne genauso wie auf Trivialmythen. Alles nimmt er gleichzeitig auf und schafft sich seine eigene hybride, raffinierte Kunstform.
Gottfried Benn ist anschlussfähig an die spät- und postmoderne Wahrnehmung. Er bricht das Pathos, wenn es übermächtig zu werden droht, und versetzt seine Sprache in den letzten Lebensjahren immer häufiger mit Alltagsslang, mit Anspielungen an die Populärkultur; er hat einen schnoddrigen, coolen Gestus. Der Benn-Sound spielt mit Elementen des Pop, bevor es einen Begriff dafür gibt.
Doch der alte Benn ist später ernüchtert und desillusioniert, und mit einer wegwerfenden Handbewegung registriert er auch den politischen Rausch, dem er kurze Zeit um 1933 erlegen ist. Die letzten zehn Jahre seines Lebens sind ein völlig unerwarteter Triumphzug. Seinen sechzigsten Geburtstag 1946 verbringt er noch fast völlig allein und berät nur seine Haushälterin, deren Kleid nicht richtig sitzt.
Kunst fern von Politik
Sein siebzigster Geburtstag kurz vor seinem Tod 1956 aber ist ein hoher Staatsakt, mit der gesamten gesellschaftlichen Prominenz. Er hat mit seiner Kunst den Nerv derer getroffen, die nicht an die Vergangenheit, umso mehr aber an die Gegenwart denken wollen. Dafür ist es gut, wenn sich die Kunst von der Politik fernhält. Als es nach dem Krieg um die Wiederbelebung der Preußischen Dichterakademie geht, schreibt Benn an seinen Brieffreund Oelze, und diese Worte wirken wie ein Vermächtnis:
Meine Frage, welchen Sinn und Inhalt diese Akademie heute haben solle, wird mit „Repräsentation“ beantwortet. Gelächter, sage ich! Wer, für wen und was? 1933 wurden die Mitglieder auf Befehl der Faschisten gestrichen, heute auf Befehl der Antifaschisten, kommen morgen die Katholiken zur Macht, hängen wir eine Madonna an die Wand und legen Rosenkränze vor die Sitzungsteilnehmer – also: entweder es gibt die Kunst, dann ist sie autonom, oder es gibt sie nicht, dann wollen wir nach Hause gehn.