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J. D. Salinger und sein "Der Fänger im Roggen"

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Anna-Dorothea Schneider
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Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Der "Fänger im Roggen" von 1951 hat den Status eines modernen Klassikers und sein Autor einen Platz im Pantheon der Weltliteratur. Am 1. Januar 1919 wurde Jerome David Salinger in New York geboren.

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Verlorenheit eines Teenagers in der Konsumgesellschaft

In "Der Fänger im Roggen" lässt Salinger seinen Protagonisten, den jugendlichen Schulverweigerer Holden Caulfield, erzählen, wie er aus dem Internat abhaut und sich zwei Tage lang in New York herumtreibt. Während er seine Geschichte erzählt, sitzt er in einem Sanatorium – ob in einer Lungenheilanstalt oder einer Einrichtung für psychisch kranke Teenager, das bleibt offen.

Dieser Roman über den Orientierungsverlust und die Verlorenheit eines Teenagers und die hohle Konsumgesellschaft wurde in rund zwanzig Sprachen übersetzt. 60 Millionen Exemplare gingen weltweit über den Ladentisch. Noch heute, Jahrzehnte nach seinem ersten Erscheinen, wird das Buch jährlich über 200.000 Mal verkauft.

Der Urheber des Werkes, der damals 32-jährige Jerome David Salinger, hatte lange auf diesen Erfolg hingearbeitet. Und obwohl das Buch in vielerlei Hinsicht zeitlos erscheint, ist es eng mit der Lebensgeschichte seines Autors verbunden.

Jerome David Salinger (Foto: IMAGO, imago stock&people -)
Jerome David Salinger lebte nach Veröffentlichung von "The Catcher in the Rye" seit 1953 isoliert in der kleinen Stadt New Hampshire, veröffentlichte nach 1965 nichts mehr und wurde nach 1980 nicht mehr interviewt.

PTBS nach Teilnahme an der Befreiung des KZ Dachau

Jerome David Salinger wurde am 1. Januar 1919 in New York geboren. Im Internat schrieb er nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, im Krieg schrieb er im Schützengraben, wann immer er nicht kämpfen musste.

Am 6. Juni 1944, dem sogenannten D-Day, landete Salinger mit der 4. US-Division am Strand der Normandie. Ende April 1945 erlebte er die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, Außenstelle Kaufering IV, mit. Wenige Stunden bevor die US-Amerikaner das Lager erreichten, hatte es die SS samt den noch darin befindlichen Häftlingen in Brand gesteckt.

Im Juni 1945 begab sich Salinger aus eigenem Antrieb ins Städtische Krankenhaus in Nürnberg. Er hatte einen Nervenzusammenbruch und litt danach unter dem, was man heute als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bezeichnet. Wahrscheinlich war dies auch einer der Gründe für sein späteres Bedürfnis nach Zurückgezogenheit.

10 Jahre Arbeit an "The Catcher in the Rye"

Während des gesamten Kriegseinsatzes hatte er ein Roman-Manuskript bei sich getragen, um daran zu arbeiten. Ein Kapitel daraus veröffentlichte er im Dezember 1945 in der Zeitschrift Collier's als Kurzgeschichte. Sie trägt den Titel "I'm Crazy" – "Ich bin verrückt" – und dreht sich um einen gewissen Holden Caulfield, der aus dem Internat abhaut.

Eine weitere Episode wurde im Dezember 1946 im New Yorker veröffentlicht. Der vollständige Roman erschien schließlich im Juli 1951. Alles in allem hat Salinger zehn Jahre daran gesessen.

Traumatisierter Protagonist: Holden Caulfield

"Der Fänger im Roggen" erzählt von dem 16-jährigen Holden, der eigentlich nur mit seiner zehnjährigen Schwester Phoebe wirklich kommunizieren kann.

Wie Salinger von den Kriegserlebnissen traumatisiert ist, so ist Holden, der Ich-Erzähler des Romans, traumatisiert von zwei Todesfällen in seiner nächsten Umgebung: dem Freitod des gemobbten Mitschülers James Castle und dem Tod seines jüngeren Bruders Allie, der mit elf Jahren an Leukämie gestorben ist.

Die Erzählung beginnt an einem Samstag, kurz vor den Weihnachtsferien. Holden hat erfahren, dass er wegen ungenügender Leistungen von der Schule abgehen muss. Obwohl er eigentlich noch bis Mittwoch im Internat bleiben soll, entschließt er sich, einfach schon in dieser Samstagnacht abzuhauen.

Amerikanische Soldaten laufen an Zivilbevölkerung vorbei (Foto: SWR, SWR -)
Der Krieg, zumindest als Hintergrund, ist in den meisten Erzählungen Salingers ab den späten vierziger Jahren immer präsent

Nach dem Krieg war Salinger in ein Land zurückgekehrt, dem er sich entfremdet fühlte. Die meisten Amerikaner konnten sich nicht annähernd vorstellen, wie traumatisierend die Erlebnisse waren, denen die Soldaten in Europa ausgesetzt gewesen waren. Der Krieg, zumindest als Hintergrund, ist in den meisten seiner Erzählungen ab den späten 1940er-Jahren immer präsent.

Sinnsuche und enge Geschwisterbindung

Wie Holden Caulfield war auch Salinger verzweifelt auf der Suche nach dem Sinn der menschlichen Existenz. Da in den vernunftorientierten europäischen Zivilisationen die Ratio offenbar nicht dazu eingesetzt wurde, Kriege zu verhindern, sondern sie möglichst effektiv und maximal vernichtend zu machen, wandte er sich vermeintlich friedlicheren Weisheitslehren zu, wie dem Zen-Buddhismus und den vedischen Schriften des Hinduismus.

Vielleicht hatte der "Fänger im Roggen" auch deshalb Erfolg, weil er trotz allem eine noch intakte Familie mit engen Geschwisterbindungen als Hintergrund projiziert. Auch wenn sein geliebter Bruder Allie tot ist, Holden hat noch eine Schwester, die ihn liebt, so wie er ist, mit allen seinen Macken, mit seinen jugendlichen Ängsten, Unsicherheiten und seiner Desorientiertheit.

Produktion 2018

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Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)