Klassiker der Schullektüre

Kleists "Michael Kohlhaas"

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Von Michael Reitz. Online: Candy Sauer

Die Eskalation der Gewalt

Heinrich von Kleists Erzählung "Michael Kohlhaas" aus dem Jahr 1810 wird bis heute als eine präzise Studie über die Eskalation von Gewalt gelesen.

Handlung

Kleist erzählt vom rechtschaffenen Rosshändler Kohlhaas, dem an der Grenze zwei Pferde als Pfand abgenommen werden. Als er zurückkehrt, sind die Rösser durch Feldarbeit ruiniert. Kohlhaas verlangt vor Gericht Schadensersatz. Als ihm dieser verwehrt wird, beginnt er einen Rachefeldzug, der zusehends seiner Kontrolle entgleitet. Unschuldige werden getötet und ganze Landstriche verwüstet. Ähnlich wie bei heutigen Gewaltexplosionen - in den Randbezirken der Großstädte, den Slums der Metropolen - geht es in Kleists "Kohlhaas" um den Widerstand der Wehrlosen, der aus berechtigtem Grund beginnt, aber in einem Blutbad endet.

Kleist beginnt seine Novelle mit einer Vorstellung des Pferdehändlers Kohlhaas als rechtschaffenen Mann:

"An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Rosshändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. (…) Die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; (…) Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder." (Kleist, Michael Kohlhaas)

Zwei Pferde (Foto: Colourbox, Foto: Colourbox.de -)

Auslöser des Gewaltexzesses

Es beginnt harmlos: Der Brandenburger Kohlhaas reist mit zwei seiner besten Pferde nach Sachsen. An der Grenze fordert ihn der Schlossvogt des Junkers Wenzel von Tronka auf, einen Passierschein zu lösen, sonst dürfe er nicht weiterreisen. Kohlhaas verpflichtet sich, den Schein in Dresden nachzulösen. Als Pfand jedoch muss er seine beiden Rösser hinterlassen. In Dresden erfährt Kohlhaas, dass ein Passierschein gar nicht nötig ist. Und als er seine Pferde beim Junker abholen will, findet er sie halbverhungert vor.

"Das sind die Pferde nicht, die dreißig Goldgülden wert waren! Ich will meine wohlgenährten und gesunden Pferde wieder haben! Der Junker, indem ihm eine flüchtige Blässe ins Gesicht trat, stieg vom Pferde, und sagte, wenn der Hans Arsch die Pferde nicht wiedernehmen will, mag er es bleiben lassen." (Kleist, M. K.)

Willkür und Vetternwirtschaft statt Recht und Ordnung

Obwohl der Junker ihn beleidigt und demütigt, zeichnet Kleist seinen Kohlhaas zunächst als einen duldsamen Menschen. Kohlhaas glaubt an das Recht und reicht beim sächsischen Kurfürsten Beschwerde ein. Doch nach monatelangem Hinhalten erfährt er, dass seine Klage in Dresden abgewiesen wurde. Der Grund: Adlige Verwandte des Junkers und hohe Beamte am sächsischen Hof haben interveniert.

Kohlhaas gibt aber nicht auf, sondern wendet sich an seinen Landesherren, den Kurfürsten von Brandenburg. Doch diese Klage wird ebenfalls abgewiesen und Kohlhaas erfährt, dass auch der brandenburgische Staatskanzler mit dem Junker verwandt ist.

Nun will Kohlhaas' Frau dem brandenburgischen Kurfürsten persönlich eine Bittschrift überbringen. Als sie dabei durch einen Unfall stirbt, brennen bei Michael Kohlhaas sämtliche Sicherungen durch. Er verkauft sein Gut und übernimmt sodann, wie es in der Novelle heißt, "das Geschäft der Rache". Er bewaffnet seine treuesten Knechte und lockt sie mit dem Versprechen, den Junker foltern zu dürfen, zur Tronkenburg.

"Kohlhaas, der beim Eintritt in den Saal einen Junker Hans von Tronka, (…) bei der Brust fasste und in den Winkel des Saals schleuderte, dass er sein Hirn an den Steinen versprützte, fragte, (…) wo der Junker Wenzel von Tronka sei. Und da er (…) niemand fand, so stieg er fluchend in den Schlosshof hinab, um die Ausgänge besetzen zu lassen. Inzwischen war (…) nun schon das Schloss, mit allen Seitengebäuden, starken Rauch gen Himmel qualmend, angegangen, und während Sternbald, mit drei geschäftigen Knechten alles, was nicht niet- und nagelfest war, zusammenschleppten, flogen (…) aus den offenen Fenstern der Vogtei die Leichen des Schlossvogts und Verwalters mit Weib und Kindern herab." (Kleist, M. K.)

Unrecht und Vergeltung

Kleist beschreibt die Sogwirkung einmal entfesselter Gewalt. Mit dem ursprünglichen Anlass haben die brutalen Ereignisse bald nichts mehr zu tun. Auch weil die wachsende Schar seiner Mitkämpfer zum Teil von anderen Motiven geleitet wird als Kohlhaas selbst: Unzufriedenheit, Ausbeutung, materiellen Interessen.

"Diese Irrationalität taucht bei Kleist immer auf. Und gar nicht im Sinne von "wir verurteilten das, das ist irrational", sondern da taucht was auf, was mit unseren Kategorien der Vernunft und des Ausgeglichenseins, des gesunden Menschenverstandes überhaupt nicht zu fassen ist (…) Kleist ist nicht wohltemperiert, sondern Kleist ist eher wie ein Baggersee, wo man durch warmes Wasser schwimmt – und plötzlich wird es eiskalt und man ersäuft." (Ulrich Peltzer, Schriftsteller)

Der Kulturjournalist Jens Bisky ordnet Kleists Novelle so ein:

"Er zeigt uns im Kohlhaas die Entstehung eines Terroristen (…) Er zeigt eine Rechtsverletzung und dann zeigt er das, was wir heute lebensweltliche Entkopplung nennen würden. (…) Erst muss seine Frau sterben, das Haus verkauft werden und die Kinder müssen fort, und die Angestellten müssen Soldaten werden, bevor er in den Kampf losziehen kann, weil er nun überhaupt nicht mehr durch Rücksichten gehemmt ist in der Entfesselung von Gewalt. Und das ist ein Mechanismus, der Kleist ungeheuer interessiert hat." (Jens Bisky)

So berechtigt Kohlhaas' Kampf auch sein mag – Kleist zeigt auf, dass er eindeutig zu weit geht. Der Pferdehändler fragt nicht mehr danach, welche Mittel angemessen sein könnten, sondern stilisiert sich in einem regelrechten Gerechtigkeitswahn zum Helden, der gegen das Böse kämpft:

"Er nannte sich einen Statthalter Michaels, des Erzengels, der gekommen sei, an allen, die in dieser Streitsache des Junkers Partei ergreifen würden, mit Feuer und Schwert die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken sei, zu bestrafen. Dabei rief er das Volk auf, sich zur Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge, an ihn anzuschließen. Und das Mandat war, mit einer Art von Verrückung, unterzeichnet: "Gegeben auf dem Sitz unserer provisorischen Weltregierung."" (Kleist, M. K.)

Kleist und seine Zeit

Heinrich von Kleist, 1777 in Frankfurt an der Oder geboren, ist Mitglied des preußischen Offiziersadels. Bereits als Fünfzehnjähriger tritt er in die Armee ein, quittiert aber sieben Jahre später den Dienst. Er versucht sich in einer Fülle von Berufen, unter anderem auch als Schriftsteller. Alle diese Versuche haben eines gemeinsam: Sie scheitern kläglich. Seine Theaterstücke wie "Käthchen von Heilbronn" oder "Penthesilea" werden entweder gar nicht oder nur selten aufgeführt.

1808 gibt er zusammen mit Adam Heinrich Müller die Zeitschrift "Phöbus" heraus, in dem auch sein "Michael Kohlhaas" erstmals erscheint. Doch bereits im Dezember 1808 erscheint das letzte Heft; die Herausgeber sind verschuldet, das Projekt ist gescheitert.

Während Kleist am "Kohlhaas" arbeitet, wirkt er an Aufständen gegen Napoleon I. mit. In der Schlacht bei Jena und Auerstedt hatten die Franzosen am 14. Oktober 1806 die preußische Armee geschlagen.

Ab Oktober 1810 gibt Kleist die erste Berliner Tageszeitung heraus, die "Berliner Abendzeitung". Häufig gibt es Probleme mit der Zensur und Kleist lässt keine Gelegenheit aus, sich mit dem preußischen Establishment anzulegen. Sein größter Fehler: Er gerät in Konflikt mit August Wilhelm Iffland, der als Direktor des Nationaltheaters Kleists Stück "Käthchen von Heilbronn" abgelehnt hatte. Auf Ifflands Homosexualität anspielend, schreibt ihm Heinrich von Kleist:

"Euer Wohlgeboren haben mir das Käthchen von Heilbronn mit der Äußerung zurückgeben lassen, es gefiele ihnen nicht. Es tut mir leid, dass es ein Mädchen ist; wenn es ein Junge gewesen wäre, so würde es Euer Wohlgeboren wahrscheinlich besser gefallen haben." (Heinrich von Kleist)

Im März 1811 muss Kleist das Erscheinen der "Berliner Abendzeitung" einstellen. Mitverantwortlich für das Desaster sind auch zwei Charaktereigenschaften, die bestimmend für sein ganzes Leben sind: Selbstüberschätzung und Realitätsverlust:

"Kleist braucht wenige Wochen, und er hat die preußische Regierung, die französischen Besatzer, die französische Zensur, das Publikum und einen Teil seiner Autoren gegen sich aufgebracht. Und da hat man das klassische Kleist-Bild, so eine Kleist-Situation, dass jemand ganz für sich allein und für seine Wahrheit einsteht und dann ganz fremd ist in der umgebenden Welt." (Jens Bisky)

Grab von Heinrich von Kleist am Berliner Wannsee (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa - Tilman Vogler)
Grab von Heinrich von Kleist am Berliner Wannsee

Zur Sicherung seiner Existenz unternimmt er den vergeblichen Versuch, wieder in die preußische Armee aufgenommen zu werden. Doch mittlerweile fast völlig mittellos entschließt er sich zusammen mit der unheilbar kranken Freundin Henriette Vogel zum Selbstmord. Am 21. November 1811 erschießt der 34-Jährige zuerst Henriette und dann sich selbst am Kleinen Wannsee.

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