Buch der Woche am 21.9.

Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum

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AUTOR/IN
Pascal Fischer

Das neueste Buch des diesjährigen Trägers der Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ist eine überraschende Annäherung eines Muslim an das Christentum. Es ist keine trockene, theologische Untersuchung über seine Dogmen, sondern eine höchst persönliche Hinwendung. Und damit die glänzende Extremform eines interreligiösen Verständigungsdiskurses, der seinesgleichen sucht.

Dieses gleich vorweg: Man muss sich von diesem Text berühren lassen wollen, so wie sich Navid Kermani berühren lässt. Trotz der Sparte "Sachbuch" nämlich ist er schwärmerisch, poetisch, gibt sich, ja: erleuchtet. Das ist keine trockene, theologische Untersuchung über die Dogmen des Christentums, sondern eine höchst persönliche Hinwendung. Und damit glänzende Extremform eines interreligiösen Verständigungsdiskurses, der vollen Einsatz zeigt. Kermani besucht Museen, Klöster, Messen in Rom, Köln, Frankfurt. In Syrien und Serbien reist er umher; er analysiert Caravaggio, da Vinci, Rembrandt, El Greco, den Kölner Domfensterstreit, Hölderlinverse, die seltsamsten Apokryphen. Oder schreibt zum Beispiel über ein Metallkreuz von Karl Schlamminger, ein Objekt mit schlichter Kordelästhetik:

Der Schriftsteller Navid Kermani (Foto: picture alliance / dpa  - Ingo Wagner/dpa)
picture alliance / dpa - Ingo Wagner/dpa

Das nun ist ein interreligiöses Revolutiönchen. Denn erst 2009 hatte es Gezänk um den Hessischen Kulturpreis gegeben: Konservative Politiker wollten ihn Kermani fast vorenthalten, weil der Autor in einem Artikel das Kreuzessymbol abgelehnt hatte. Und nun glaubt man streckenweise, es komme die Konversion des Kermani, so berührt schreibt er. Hier zeigt sich einer, der aus einer eher bilderlosen Tradition kommt, betört, existentiell berührt von den Gemälden und Vorstellungen der Schwesterreligion. 

Der Übergang von nachvollziehbarer Begeisterung zum unbedingten Gutfindenwollen ist allerdings fließend, auch das ist typisch für viele heutige Verständigungsdiskurse, in denen Befremden schnell mit dem Label Intoleranz beklebt wird: Nur schwer nachvollziehbar nämlich erscheint Kermanis Begeisterung für überlange orthodoxe Messen. Dem Rezensenten ist unbegreiflich, wie man stundenlanges Stehen in überregulierten Riten als Offenbarung erfahren kann. Da kippt Navid Kermanis ungläubiges Staunen oft in ein gläubiges Raunen. Sehr beeindruckend und überzeugend dagegen formuliert Kermani, was ihn am Christentum, Zitat, "bezwang": Letztlich gerade nicht die Riten, Bilder, Musikwerke oder Kirchenarchitekturen. 

So etwa erzählt er von Padre Paolo D'All Oglio, einem Jesuiten, der mitten in der syrischen Wüste ein Kloster wiederbelebte und den Kontakt zu den Muslimen suchte. Ein Pater, der Assad kritisierte, ausgewiesen wurde, und mittlerweile vom IS gekidnappt wurde. Beklemmt und beeindruckt zeigt sich Kermani. Und zieht dann doch die Notbremse, zeigt seine Abwehr: Gegen die Trinität, die Fleischwerdung; gegen den lustfeindlichen Protestantismus des Siegerlandes aus seiner Kindheit, gegen die steifen evangelischen Kirchentage...

Das ist die Kehrseite der Medaille, wenn man sich verstärkt der rheinischen Spielart zuwendet: Da gerät das Christentum vielleicht sinnesreizflutender, der Mensch hingebungsbereiter als im aufgeklärteren und allzu gewissensfreien Protestantismus. Und grenzenlos ist Kermanis Toleranz verständlicherweise nicht: Er reagiert schockiert, als seine Tochter einmal aus Versehen in einer Kirche fast eine Hostie gegessen hätte.

Je weiter man im Buch gelangt, desto mehr spürt man unter der Annäherungsmelodie einen dekonstruktivistischen Unterton, der nach beiden Seiten hin klingt. Und das ist der eigentliche Clou eines Autors, der zwischen zwei Religionen nach beiden Seiten hin mit dem Blick des Anderen schauen kann. Er findet die Blutrünstigkeit heutiger islamischer Terroristen in den mittelalterlichen Kreuzzügen. Er spürt einen Hauch Dreifaltigkeit in islamischen Traditionen auf und nennt das gar ein "islamisches Christentum", wenn der Koran nur Jesus als herausgehobenen Propheten "das Wort Gottes" nennt; Jesus erscheint ihm beizeiten wie ein Sufitänzer. Und die katholische Leidenslust findet Kermani in der Shia wieder. Den anderen verstehen, so lernt man hier, das muss gerade nicht heißen, ihm seine traditionsverhaftete Selbstbeschreibung abzukaufen. Sondern kann auch bedeuten: Die fremde Religion gegen den Strich lesen. Hier ist Kermani am erfrischendsten und frechsten:

... deutet er gewitzt ein Caravaggio-Gemälde. Bei El Greco sieht er Jesus und Maria als Liebende; bei Boticelli erscheint Jesus wie eine Frau, und bei Pietro Perugino will die Marienerscheinung den heiligen Bernhard, ja, wörtliches Zitat, "bumsen". Mit dem apokryphen Kindheitsevangelium des Thomas bezeichnet Kermani den minderjährigen Jesus als "Rotzlöffel" und "widerwärtiges Ungeheuer", das verhasste Spielkameraden verdorren lässt. Interpretationen, die doch zur untergründigen Erotik, zur spezifisch christlichen Arroganz hinter der vorgeschützten Demut vordringen. Belesenheit, Mut zur Meinung, dennoch ein Hauch von Demut: Davon hätte man gerne mehr in den bundesdeutschen Religionsdiskursen.

Doch wenn Navid Kermani schon das Ungewohnte wagt, dann bleibt unverständlich, warum Gott und Gotteserfahrung hier wie selbstverständlich vorausgesetzt werden – auch das ein Symptom christlich-muslimischer Dialoge. Im Verbrüderungsgestus lassen sich die beunruhigendsten Fragen vergessen: Beweisen Staunen und Erschütterung schon das Göttliche, so dass wir nur noch über unsere Interpretationen reden müssen? Ist der religiöse Mensch wirklich sich selbst durchsichtig? Der wahre, tiefere Riss moderner Gesellschaften verläuft doch wohl zwischen Gläubigen und Atheisten oder Agnostikern. Hier kommt er leider fast nicht vor, hier endet die rechtschaffene Selbsterkundung vieler Religiöser eben. Um sich von Navid Kermanis Erbeben berühren zu lassen, muss man als Leser letzten Endes wohl doch religiös sein.

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Pascal Fischer