Buch der Woche

Aus dem Englischen von Michaela Grabinger

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AUTOR/IN
Stefan Berkholz

Aus dem Englischen von Michaela Grabinger

Sie lebt im Exil in London und schreibt über ihre alte Heimat, die Türkei: Elif Shafak gehört zu den wichtigsten Stimmen der türkischen Gegenwartsliteratur, auch wenn sie ihre Bücher inzwischen auf Englisch verfasst.

In ihrem jüngsten Roman „Unerhörte Stimmen“ erzählt Shafak von jenen, die am Rand der Gesellschaft leben: Prostituierte, Transsexuelle, Verlorene. Mit ihren Frauenfiguren schafft sie Gegenwelten in einem autoritären Land: ein Roman für eine freie, demokratische und solidarische Türkei.

Elif Shafak ist eine der bedeutenden Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie hat elf Romane veröffentlicht, in über fünfzig Sprachen sind sie übersetzt worden.

Sieben Romane liegen im Verlag Kein & Aber auf Deutsch vor.

In ihrem jüngsten Roman erzählt Shafak von jenen, die am Rand der Gesellschaft leben.

Das Ende ist der Anfang

Der Roman beginnt mit dem Ende. „Das Ende“, so steht es auch über dem Eingangskapitel. Die Hauptfigur Leila ist tot, sie lebt nicht mehr. Ihre Freunde wissen es noch nicht. Sie selbst hatte es auch nicht für möglich gehalten, und jetzt denkt sie noch weiter.

Die Konstruktion beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak nutzt für den Aufbau ihres neuen Romans Erkenntnisse der Wissenschaft. Sie war sich zunächst unsicher über diesen Anfang, bekennt sie in ihrer Danksagung am Ende, doch die Studien über das Schattenreich von Toten faszinierten sie und ließen sie nicht los:

„Ich war sehr an dieser bemerkenswerten wissenschaftlichen Arbeit interessiert. Das menschliche Gehirn arbeitet nach dem Moment des Todes noch einige Minuten weiter, und dies, nachdem das Herz aufgehört hat zu schlagen. In einigen Fällen kann das sogar bis zu zehn Minuten dauern.
Die Frage war also, was bleibt von einem Leben übrig, woran erinnern wir uns, nur in diesen wenigen Minuten? Was geht im menschlichen Gehirn vor?“

Das erste Kapitel schildert den Leidensweg der Hauptfigur

Der Originaltitel lautet „10 Minutes 38 Seconds in this Strange World“, also zehn Minuten 38 Sekunden in dieser seltsamen Welt. Und so erzählt Elif Shafak zunächst im ersten Kapitel „Geist“ im Minutentakt vom Leidensweg ihrer Hauptfigur.

Leila ist eine vom Schicksal verprügelte junge Frau aus ärmsten Verhältnissen, sie stammt aus Van in Ostanatolien, nahe der iranisch-türkischen Grenze. Leila wurde einst vom Onkel in der Kindheit missbraucht, sie flüchtet nach Istanbul, wird dort erneut missbraucht, und mit 16 Jahren in ein Bordell verkauft. Wir befinden uns im Jahr 1963.

„Meine Charaktere sind Ausgestoßene“, sagt Elif Shafak, „sie sind nicht reich oder privilegiert, sie haben keinerlei Unterstützung. Das Leben für sie ist sehr schwierig. Ich schreibe über Sexarbeiter, ich schreibe über Transgender-Sexarbeiter, Prostituierte oder Menschen, die sehr einsam sind und herumirren. Sie haben keinerlei Schutz, weder rechtlich noch sozial. Das Raue der Stadt ist für sie noch schmerzlicher. Das wollte ich darstellen.“

Obwohl der Roman in den 60ern spielt, ist er aktueller denn je

Shafak streift religiösen Fundamentalismus und archaische Sitten, sie skizziert das Schicksal von Armeniern und Kurden, sie erzählt von einem tief zerrissenen Land. Über Istanbul finden sich Sätze, die ganz gegenwärtig wirken.

Im zweiten Teil, „Körper“, ist in kurzen Abschnitten die Zeit nach Leilas Tod geschildert und erst hier erfahren wir, welche Bedeutung Leila für ihre Freunde hatte und dass es neben ihrem Unglück auch glückliche Momente gegeben hat.

Vor Tabuthemen wird kein Halt gemacht

Im kurzen Teil 3, „Seele“, fantasiert Shafak schließlich ein märchenhaftes Ende, eine Befreiung nach dem Tod, und die Solidarität jener, die wenig Solidarität in ihren Leben erfahren haben:

„Ich glaube fest an globale Schwesternschaft und Solidarität, insbesondere unter Frauen. (…) Da ich nicht in die Türkei gehen konnte und mich außen vor fühlte, kam ich Außenseitern noch näher. In all meinen Erzählungen habe ich versucht, kulturellen, ethnischen, sexuellen Minderheiten eine Stimme zu geben. Ich wollte ihre Geschichte aufgreifen und anderen Menschen verständlich machen.“

Shafak fühlt sich als Weltbürgerin

Elif Shafak schreibt sehr einfach. Doch sie streift – auch in „Unerhörte Stimmen“ - Themen voller Tabus. Damit macht sie sich in einem despotisch regierten Land unmöglich. Im Gespräch erläutert die Schriftstellerin, warum sie ihre Romane heutzutage auf Englisch schreibt:

„Wenn ich über Melancholie, Sehnsucht und Traurigkeit schreibe, finde ich es einfacher, diese Dinge auf Türkisch auszudrücken. Aber Humor, Ironie und Satire sind auf Englisch viel einfacher.
Das Schreiben auf Englisch gibt mir vielleicht ein Gefühl von Leichtigkeit. Weil die Themen, mit denen ich mich beschäftige, sehr schwer sind. Ich brauche etwas Platz und auch Distanz, um die Dinge ruhiger analysieren zu können. Ich mag ruhige Darstellungen.“

Seit drei Jahren hat Shafak es nicht mehr gewagt, in die Türkei zu reisen, seit zehn Jahren lebt sie in London. Sie fühle sich als Weltbürgerin, sagt sie, und sie ist stolz darauf. Ja, sie ist viel in der Welt herumgekommen, ihre Existenz in London fasst sie aber dennoch als Exil auf:

„Natürlich ist es ein Exil. Ein Exil ist ein schwieriges Thema. Manchmal ist es das selbst auferlegte Exil, manchmal wird es von außen auferlegt. Ich habe mein ganzes Leben in sehr verschiedenen Ländern gelebt. Ich lebe sehr nomadisch. Ich bin eine sehr internationale Seele. Ich habe in Amerika gelebt, in Jordanien, in Deutschland, in der Türkei, in Großbritannien, in über zwölf Städten. – Aber natürlich lebe ich im Exil!“

Ein feministischer Roman gegen die Männerherrschaft

Istanbul sei eine weibliche Stadt, behauptet die Feministin Elif Shafak. Und so hat sie in diesem Roman mit ihren Frauenfiguren so etwas wie eine Gegenwelt geschaffen.

Es ist ein Roman gegen Nationalismus und religiösen Fundamentalismus, gegen Militarismus und Männerherrschaft, gegen Aberglauben und archaische Sitten. Elif Shafak schreibt Romane für eine freie, demokratische und solidarische Türkei.

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Stefan Berkholz