Buch der Woche vom 17.3.2019

Saša Stanišić: Herkunft

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Was prägt uns, was macht uns zu dem, was wir sind? Und woher kommen wir eigentlich? Die Frage nach der Herkunft berührt Vergangenheit und Gegenwart zugleich.

Und für einen Schriftsteller ist sie auch eine nach den Ursprüngen der Sprache. In seinem neuen Buch erzählt Saša Stanišic von seinem eigenen Leben – und dem Leben überhaupt.

1978 geboren in Jugoslawien, aus dem Bosnienkrieg mit den Eltern nach Deutschland geflohen, eine neue Sprache erlernt und vor allem gelernt zu fantasieren: So könnte man in allerkürzester Form die Biografie von Saša Stanišic zusammenfassen.

Stanišics Helden sind meist ohne Heimat

Fragen nach der Herkunft, die feine Wahrnehmung von Lebensbrüchen und die unendlich fantastischen Möglichkeiten der Literatur – das sind Grundelemente im Schreiben von Stanišic. Wie die Wirklichkeit zerbricht, das hat er in seinem Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ aus dem Jahr 2006 beschrieben.

Und dass in einem Dorf in der Uckermark alle Dramen der Welt zu finden sein können, das hat er in „Vor dem Fest“ gezeigt. In seinen Erzählungen schlagen sich seine heimatlosen Helden oftmals mit dem Mut der Verzweiflung durchs Leben.

Vielfach wurde Saša Stanišic für seinen ungeheuren Sprachwitz ausgezeichnet, unter anderem mit dem Chamisso-Preis und dem der Leipziger Buchmesse. Wer ihn einmal auf einer Bühne erlebt hat, weiß zudem, dass dieser Autor gar nicht anders kann als zu erzählen – sein Text erweitert sich da nicht selten ins Mündliche. Wenn die Seite zu Ende ist wird einfach weiterfabuliert.

Nun legt er ein neues Buch mit dem Titel „Herkunft“ vor – eine Sammlung von Geschichten, Erinnerungsbuch und Poetologie in einem.

Der Autor selbst ist die Hauptfigur des Romans

Der Held dieses Buches, der kein anderer ist als der Autor Saša Stanišic selbst, wird am 7. März 1978 in Višegrad an der Drina geboren – noch in jenem Land, das ein Versprechen sein sollte, eine Utopie für das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker: Jugoslawien. Mit dieser Vision ging es bekanntlich nicht gut aus.

Anfang der 90er Jahre zerriss Jugoslawien; der Krieg zerfetzte Städte, Dörfer und Biografien. Der damals 14-jährige Saša Stanišic verließ 1992 mit seinen Eltern die Heimat, die plötzlich implodiert war. Im Heidelberger Emmertsgrund fand er ein neues Zuhause, in Deutschland eine neue Sprache.

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Erinnerungen an die ehemalige Heimat sind geblieben

Was blieb: Mutter und Vater. Die Großmutter Kristina, die Mutter des Vaters; Nena, die Mutter der Mutter, die aus Nierenbohnen die Zukunft las. Erinnerungen an ein untergegangenes Land, einen Sozialismus, der „müde“ geworden war; einen Nationalismus, der – wie man gerne sagt – sein grausames Haupt erhob.

Was aber bedeutet das für das eigene Ich? Wie lässt sich die Frage beantworten, wer man selber ist?

Auch bei der Frage nach der Herkunft erlaubt sich Stanišic Ironie

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass alle Bücher von Saša Stanišic, der sich die deutsche Sprache wie ein Liebhaber im Sturm erobert hat, die Frage nach der Herkunft ironisch drehen und wenden. Sein neuestes aber trägt dieses ominöse, schwer fassbare Wort programmatisch im Titel: „Herkunft“ ist eine Mischung aus Memoir und Fabulierkunst.

„Herkunft“ setzt Stanišics erzählerische Reflexionen fort, die vor zwei Jahren mit seinen Poetikvorlesungen in Zürich zwar nicht ihren Anfang genommen, aber doch einen poetologischen Rahmen bekommen haben.

Sprachspielereien verführen den Leser

Das Buch erzählt im verführerischen Stanišic-Ton, der auch die schmerzvollste Erkenntnis noch in eine leichte, sprachspielerische Melodie verwandelt, von seiner Familie und von Wahlfamilien. Es erzählt vom Weggehen und Ankommen, von Begegnungen und Spurensuchen. Das Verstreute wird zumindest in der Sprache wieder zusammengesetzt.

Eine Geschichte etwa handelt von einer Fahrt in die bosnischen Berge, einer Reise zu den Ahnen, hinein in ein Schattenreich, in dem das Anekdotische neben dem Mythischen besteht.

Heimat und Herkunft entstehen im Schreiben, aber das Schreiben selbst ist in Bewegung. Einen festen Ort gibt es weder für den Autor noch für die Figuren in den bisher erschienenen Büchern. Sie sind auf der Flucht, und auch die Sprache von Stanišic hat etwas Ruheloses.

Lesung aus "Herkunft"

Es zieht seine Sätze mal da hin, mal dort, immer aber ins Offene. Vielleicht ist dieser assoziative, höchst lustbetonte Zugang zur Literatur, der aus dem Mündlichen kommt, überhaupt das Besondere an den Büchern dieses Autors. Auch für seine neue, autobiographische, sich aus vielen Erinnerungsfragmenten zusammensetzende Erzählung gilt das:

Steter Wechsel zwischen Vorstellung und Wirklichkeit

Das macht „Herkunft“ auch für die Leser zu einem Abenteuer: Wie der Erzähler sich zwischen seinen eigenen früheren Ichs bewegt, ist höchst suggestiv. Er besucht in Gedanken und in der Wirklichkeit die Kindheitsorte, an denen etwas Existenzielles vermutet und doch nicht recht gefunden wird.

Stanišic erzählt von der Initiation des Erzählers im Kreis der Freunde, die sich in Rollenspielen ihre entgrenzten Fantasieräume eroberten. Er schreibt mit großer Hingabe von einem zentralen Ort der Jugendzeit, einer ARAL-Tankstelle, an der sich die Jugendlichen im Emmertsgrund treffen.

Eine Soziologie Heidelbergs wird entworfen

Und er schildert – fast ist das ein eigener kleiner Bildungsroman – den Übertritt in eine andere kulturelle Sphäre, ohne dabei aus der früheren jemals ganz zu verschwinden: Er zeichnet leichthändig Bilder und schafft es wie nebenbei, eine kleine Soziologie des Heidelberger Bürgertums zu entwerfen:

Die Sprache fungiert als Gegenentwurf zur Demenz

Ein Fixpunkt in diesem Selbstvergewisserungsbuch – auch im poetologischen Sinne – ist die Großmutter. Ihrem Andenken ist dieses Buch auf gewisse Weise gewidmet. Ihr Versinken in der Demenz versucht der Enkel aufzuhalten durch Sprache, immer wieder setzt er an, reiht Geschichte an Geschichte, Ende an Ende.

Die Literatur nämlich, das weiß Stanišic gut, ist der Wirklichkeit im Erfinden einer anderen, freundlicheren Realität weit voraus.

Der Roman ist ein Füllhorn verschiedener Erzählungen

„Herkunft“ ist ein poetisches Plädoyer mithin für das Vieldeutige, Vielsprachige, Vielstimmige, für das Abschweifen und Verlorengehen, das alleine ein Gefundenwerden zu ermöglichen scheint.

Identität ist keine Einbahnstraße

Auf die Frage nach der Herkunft gibt es keine eindeutige Antwort, nur Geschichten. Und wer Geschichten erzählt, ist kaum anfällig für die obskuren Heilsversprechen von Nationalisten und so genannten Identitären.

Wer klug ist, weiß ohnehin, dass Identität kein Kleidungsstück ist, in das man einmal hinein- und nie wieder hinausschlüpft. Sondern vielmehr eine komplexe Mixtur aus Herkunftsmythen, Erzählungen, Erfindungen, Sehnsüchten, Begierden, Ängsten und Widersprüchen.

Und das gilt nicht nur für einen in Bosnien geborenen deutschsprachigen Autor. Es gilt für uns alle.

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Ulrich Rüdenauer