SWR2 Buch der Woche vom 19.2.2018

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Stand
AUTOR/IN
Julia Schröder

Vier Personen, die auf geheimnisvolle Weise und über große Zeiträume hinweg miteinander verbunden sind: Sind sie Doppel- oder Wiedergänger? Kannten sie sich einmal und begegnen sich jetzt wieder - oder sind es Phantasmagorien, Wunschbilder?

Der große Schweizer Erzähler Peter Stamm verknüpft in seinem siebten Roman Motive der Romantik mit dem Lieben und Leiden der Gegenwart. Eine Geschichte vom Verlieren und Finden der Liebe, von Zufall und Notwendigkeit, die um die Frage kreist: Wer erzählt mein Leben?

Eine gegenwärtige Thematik inszeniert mit romantischer Motivik

Peter Stamm, der Spezialist der vielsagenden Unschärfe, hat für seinen siebten Roman ein durch und durch romantisches Motiv gewählt. „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“, so der Titel des Buchs, ist eine Doppelgängergeschichte, eine doppelte Doppelgängergeschichte sogar, und damit zugleich die eines magischen Vierecks aus Wahlverwandtschaften.

Es geht um Christoph und Chris, Magdalena und Lena, einen Schriftsteller und seine Geliebte – sowie deren später geborene oder vielleicht erfundene Gegenbilder und Wiedergänger. Es geht um das Verlieren und das Finden der Liebe, um Zufall und Bestimmung, und es geht um die Brüchigkeit und Zufälligkeit von so etwas wie Identität. Denn die durch und durch romantische Konstellation dieses Romans verhandelt ein ganz und gar gegenwärtiges Thema: Wer erzählt mein Leben?

Auch diesen Roman zeichnen verschachtelte Verhältnisse aus

Stamm-Leser erinnern sich: Just dies war auch die Frage, der sich vor zwei Jahrzehnten sein erfolgreiches Romandebüt „Agnes“ stellte. Aber anders als in „Agnes“ erzählt Stamm jetzt keine zunächst realistisch anmutende Geschichte, sondern eine, die von allem Anfang an Züge des Fantastisch-Märchenhaften hat - auch dies ein Erbe der Romantik.

Die Rahmenhandlung macht uns zu Beginn mit einem alten und einsamen Mann bekannt, der rätselhaften Besuch bekommt:

Damit und mit dem Aufbruch des alten Mannes in die ungefähre Landschaft eines frostkalten Wintertags setzt eine Erinnerung ein, die immer wieder gebrochen wird. Denn Peter Stamm erweist sich auch in diesem Buch als Liebhaber verschachtelter zeitlicher Verhältnisse. Christoph - so heißt der alte Mann - erinnert sich an ein Treffen mit der jungen Schauspielerin Lena. Ihr hatte er während eines sehr langen Spaziergangs durch Stockholm erzählt, warum er nur ein einziges Buch geschrieben und veröffentlicht hat.

Immer wieder tauchen unerklärliche Parallelen auf

Er ist nämlich einige Jahre zuvor einem jungen Mann begegnet, der ihm aufs Haar gleicht und zu schreiben begonnen hat. Wie sich zeigt, ist dieser Chris Lenas Freund, und in Lena wiederum erkennt Christoph die Schauspielerin Magdalena wieder, seine verlorene große Liebe.

Einen halben Tag und eine halbe Nacht spazieren die beiden, Christoph und Lena, durch unwirtliche Gegenden von Stockholm, besuchen die Universitätsbibliothek und wärmen sich in einer simplen Kaschemme auf. All dies hat Christoph, wie sich herausstellt, Jahre zuvor allein gemacht, bevor er sich von Magdalena trennte, weil er glaubte, sich zwischen Liebe und Schreiben entscheiden zu müssen.

Tatsächlich muss die junge Lena einsehen, dass es eine Fülle unerklärlicher Parallelen zwischen Christophs Geschichte und der von Chris gibt. Aber wer sich vermutlich in dieser Nacht oder später vom anderen trennen wird, das ist in ihrer Geschichte nicht der Mann, sondern die Frau. Denn Lena ist nicht Magdalena, die sich mit Christoph ein Leben im abgesicherten Modus wünschte, sondern sie ist diejenige, die es nicht erträgt, dass sich Chris um des Geldes Willen anschickt, für Fernsehserien zu schreiben.

Die Rahmenhandlung rundet sich in einer Reminiszenz des Erzählers, der als Junge seinem alten, einsamen Alter Ego begegnet.

Stamm schreibt romantisch, ohne dabei kitschig zu werden

Peter Stamm bedient sich der Stilmittel des auch im landläufigen Sinn „Romantischen“ ohne Scheu vor dem, was ein Schweizer Kritiker an Stamms Schreiben bereits mehrfach als „dringenden Kitschverdacht“ gegeißelt hat. Der 1963 geborene Autor hat dies in seinen Bamberger Poetikvorlesungen 2014 nicht ohne Amüsement zitiert. Einiges von dem, was in diesen Vorlesungen und anderen Texten Stamms über das eigene Schreiben verhandelt wird, findet sich hier wieder.

Das Fremdheitsgefühl gegenüber einem geliebten Menschen gerade in Momenten großer Nähe, die Offenheit eines Erzählens, das seinen Lesern selten die Beruhigung eines eindeutigen Endes beschert. Und eben auch eine Frage, von der er in diesen Poetikvorlesungen berichtete:

„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ findet ebenso wenig eine Antwort. Das ist auch gut so, sonst würde der Roman zum Lehrgedicht. Aber dieses Buch dreht und wendet die Frage auf eine Weise, die große Parabeln auszeichnet: mit der klaren Schönheit und Richtigkeit eines Wintermorgens vor langer Zeit.

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Julia Schröder