SWR2 Buch der Woche vom 24.07.2017

Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

Stand
AUTOR/IN
Casten Otte
Maike Albath

Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

Yasmina Reza ist eine Meisterin schroffer Dialoge und einer Eskalationsdramatik, in der gesellschaftliche und private Beziehungsbrüche sichtbar werden. In ihrem neuen Roman "Babylon" nutzt sie diese in den ihren berühmten Theaterstücken ("Kunst", "Drei Mal Leben", "Der Gott des Gemetzels") perfektionierte Technik, um die Geschichte der unzufriedenen Elizabeth und ihres Nachbarn Jean-Lino zu erzählen.

Nach einem Fest, zu dem Elisabeth eingeladen hat, klingelt der Nachbar an der Tür und sagt, er habe seine Frau umgebracht. Statt die Polizei zu rufen und sich von dem Mörder abzuwenden, hilft sie Jean-Lino und erkennt, wie im babylonischen Grauen das Leben wieder Sinn erhält. Ein spannungsreicher, weil dramturgisch clever komponierter Roman, über dessen sprachliche Schwächen in wenigen Prosa-Passagen die Leser leicht hinwegsehen können. Reza zeigt abermals, was sie kann: Mit unterhaltsamer Tragikomik die Abgründe unseres Lebens zu erzählen.

Die 1959 in Paris geborene Schriftstellerin Yasmina Reza gehört zu den meistgespielten Theaterautorinnen in Europa. Ihre Stücke „Kunst“, „Drei Mal Leben“ und „Der Gott des Gemetzels“ werden auf großen und kleinen Bühnen gespielt, aber auch in den USA ist Yasmina Reza bekannt, und das liegt auch daran, dass der „Gott des Gemetzels“ mit einem Starensemble von Roman Polanski verfilmt wurde. Ihre Stücke sind Kammerspiele, die von menschlichen Abgründen hinter bürgerlichen Fassaden handeln. Dabei ist Yasmina Reza eine Meisterin des hysterischen Dialogs, der die Protagonisten in schlimmste psychische Krisen führt.

Sie hat ein gutes Gespür den ausgestellten Niedergang der Figuren so unterhaltsam zu erzählen, dass die Zuschauer sich zwangsläufig mit den eigenen Untiefen oder mit ganz ähnlichen gelagerten Verrücktheiten der besten Freunde beschäftigen müssen. Ja, Yasmina Reza zielt auf die Verlogenheiten und den Wahnwitz unseres Alltags, und zwar nicht nur auf der Bühne, denn die Dramatikerin schreibt auch Romane, die gleichwohl sehr theatralisch sind. Jetzt ist unter dem Titel „Babylon“ im Hanser Verlag ihr neuer Roman in deutscher Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel erschienen und ich freue mich über das Buch mit Maike Albath zu sprechen.

Frau Albath, der Text beginnt mit einem Erinnerungsbogen, die Ich-Erzählerin, etwas über 60 Jahre alt, denkt an Situationen mit Ihrem Nachbarn Jean-Lino, mit dem sie befreundet ist, die Handlung setzt erst nach 20 Seiten ein. Elisabeth, so heißt sie, hat zu einem Frühlingsfest eingeladen, aber sie ist keine erfahrene Gastgeberin, Frau Albath, wie wird uns die Figur vorgestellt?

Schon am Anfang denkt Elisabeth darüber nach, was los ist. Sie ist eine sehr reflektierte Person, sie ist Patentingenieurin von Beruf aber gleichwohl ziemlich unerfahren, was die eigenen Abgründe und Untiefen angeht. Sie hat Biologie studiert und ist eine gute Beobachterin, sie hat etwas sehr kühles, gleichzeitig muss sie sich aber daran gewöhnen zu begreifen, was da eigentlich in ihr arbeitet und was für Leidenschaften und auch entsetzliche archaische Gefühle plötzlich spürbar werden. Mich hat diese Figur sehr beschäftigt, denn da es eine Ich-Erzählerin ist, wirkt sie erst einmal identifikatorisch, gleichzeitig sind von Anfang an so viele Gegenbewegungen spürbar.

Es wird deutlich, dass irgendetwas ganz Schlimmes passiert ist. Sie wirkt wie so eine ganz konventionelle, leicht angespannte Französin, die erst mal ein Beruhigungsmittel nehmen muss, bevor sie diese Einladung übersteht. Das Spannende ist, dass gleich ein Gegenspieler eingeführt wird, also dieser Jean-Lino, über den sie dann eigentlich sich auch spiegeln kann und diese Anteile, die sie so stark offenkundig weggepackt hat, plötzlich spürt, das ist der Kniff von Anfang an.

Es gibt immer wieder ein Normalitätsgeplauder. Dann bricht aber das ganz Entsetzliche ein, und das ist wirklich sehr gut angelegt von Yasmina Reza, da merkt man in der Tat, dass sie ein Gespür hat für Rhythmus und für die Abfolge von Beschreibungen und von Dialogen, das ist so eine Art Dialoggeprassel eigentlich, das dann auch immer wieder den Leser beschäftigt.

Über die Dialoge werden wir gleich auch noch einmal gesondert sprechen, gehen wir zunächst noch einmal in der Handlung zurück: Am Anfang heißt es relativ lapidar in dem Text: „Vor zehn Tagen ist meine Mutter gestorben“, eine emotionale Bindung der Ich-Erzählerin zur Mutter scheint es wohl nicht gegeben zu haben, das Thema Tod ist damit schon gesetzt, und das Ungeheuerliche, was dann hereinbricht über sie, hat, das ahnen wir schon, mit dem Tod zu tun, aber schauen wir uns diese Elisabeth noch einmal etwas genauer an, was sind ihre Sehnsüchte und vor allem, was verbindet sie mit Jean-Lino?

Das weiß sie am Anfang selbst nicht so genau, was das ist, sie liefert ja mit diesem Monolog auch so eine Art Psychogramm ihrer selbst, es gibt diese sehr lieblose Mutter, gleichzeitig tut ihr die Mutter auch leid. Sie ist dann entsetzt von der Kälte einer Pflegerin, die zu Besuch kommt, die einfach so ein Häkeldeckchen vollkommen, ja, lieblos auch wegpackt und da scheut sie dann auch zurück vor der Kälte, die sie aber auch denke ich in sich selbst spürt. Dieser Jean Lino ist zunächst einmal ganz unauffällig, eher so ein bisschen hässlich, er scheint auch geschmacklose Sachen zu tragen, aber er hat eine Leidenschaft in sich, das merkt man beim Pferderennen, dazu lädt er sie nämlich ein: zum sechzigstem Geburtstag.

Und nun nach Elizabeths Geburtstag kippt die Situation und es passiert was Ungeheuerliches, ein Verbrechen. Das Absurde ist dann, dass das Ehepaar – also Elisabeth hat einen Mann, der Gymnasiallehrer ist und Mathematik unterrichtet – und nach dieser Einladung steht dann plötzlich dieser Nachbar wieder vor der Tür und bekennt sich zu dem Verbrechen und dazu, dass er seine Ehefrau umgebracht hat und das wird aber in genau dem selben Tonfall erzählt, das hat genau auch dieses etwas Beiläufige, Wegplaudernde. Dann taucht wieder die Mutter auf, dann kommt vor, dass sie mal zu ihrem Sohn, den sie zwar eigentlich sehr mag, auch eine distanzierte Beziehung hat, dann kommen aber auch immer wieder so Momente vor, in denen sich ihre ganze Psyche offenbart, die klafft regelrecht auf.

Sie sagt zum Beispiel, dass sich ihre Mutlosigkeit immer dann zeigt, wenn bestimmte Zimmer sie dazu zwingen, einmal zu merken, was sie eigentlich in sich trägt, etwa im Krankenhauszimmer. In diesen Momenten kommt sie dann zu sich selbst und das hat natürlich etwas sehr, sehr Genaues, und dieses Analytische und diese Haltung, die sie oberflächlich als Wissenschaftlerin hat, die lässt sie aber eben in letzter Konsequenz nicht zu, beziehungsweise, sie erzählt dann das Entsetzen, so als wäre es ganz normal, als wäre das etwas vollkommen Gewöhnliches, auch wenn dann von ihr und auch von dem Mann appelliert wird, unbedingt die Polizei zu rufen, aber das scheint fast mehr eine Konvention zu sein.

Also gibt es so gegenläufige Bewegungen von Dingen, die mit der Konvention zusammenhängen, die dieses bürgerliche Leben zu bestimmen scheinen, die Gesetze, die Regeln, so wie man sich eben verhält und diesen ganz archaischen Urgründen des Menschen, also die Tabus, die gebrochen werden, das, was da dann in ihr wühlt. Das ist der Glutkern des Romans.

Elisabeth beweist durchaus Mut, denn sie möchte ihren Nachbarn nicht im Stich lassen. Man muss da vielleicht noch ergänzen, sie geht mit ihrem Mann dann hoch zu Jean Lino und sieht sich die Tragödie an, die tote Frau liegt im Bett, und nachdem sie ihn versucht haben, davon zu überzeugen, doch bitte die Polizei zu rufen, verlassen sie die Wohnung wieder, und dann geht sie aber wieder zurück. Was geschieht dann mit ihr, wie verändert sich die Figur?

Yasmina Reza ist ja eine Künstlerin der Eskalationsästhetik, und das passiert hier in einer Art und Weise, dass es auch immer wieder dann gedämpft wird und auch wieder aufbricht, und wir haben es mit so einem kaleidoskopischen Bild auch der Beziehung zu tun, denn es gibt den roten Faden könnte man sagen, diese Blutspur des Verbrechens, die aber eingewoben ist in alle möglichen Erinnerungen. Es gibt zum Beispiel gleichzeitig sehr präzise Beobachtungen, das hat auch etwas Absurdes, dass dann nämlich zum Beispiel, nachdem das Ehepaar in die eigene Wohnung zurückkommt, erst mal der Vorhang repariert werden soll.

Das sind unfassbare Dinge. So geht sie auch wieder zurück zu Jean-Lino, und dann wird sie fast zu so einer Art „Bonnie and Clyde“-Frau, also die dann dem Verbrecher zur Seite steht und durchaus einverstanden ist damit, die Leiche der Frau in den Koffer zu packen, also das hat dann plötzlich so etwas Highsmithhaftes oder Hitchcockhaftes, dass sie da hilft und auch sieht, wie hilflos dieser Nachbar ist und wie hilflos dieser Mann ist, also diese Form der Übersprungshandlungen, dieses Hin und Her zwischen diesen extremen Zuständen, das ist etwas, das im Grunde genommen das Scharnier bildet in dieser Beziehung.

Frau Albath, Sie haben schon die schroffen und starken Dialoge erwähnt, und Sie haben die analytischen Prosaphasen beschrieben, trotzdem dachte ich zeitweilig, dass die Sprache zu wenig ambitioniert ist. Oder sehen Sie das anders?

Da gebe ich Ihnen absolut Recht, also mir erschien das von der Dramaturgie her insgesamt schlüssig, aber sie hat an der Sprache vielleicht ein bisschen wenig gearbeitet. Reza ist sicherlich jemand, der sehr, sehr schnell schreibt. Mir haben die sehr genauen Beobachtungen gefallen, also zum Beispiel, dass dann sehr präzise bemerkt wird, was sie zum Beispiel für Kleidung trägt. Aber was die Sprache angeht, da gebe ich Ihnen Recht, da sind die Dialoge sehr schnittig, also das hat etwas sehr Gesetztes und das stimmt immer vom Rhythmus auch, aber insgesamt hat es mich mehr von der inhaltlichen Gestaltung überzeugt und von den Elementen, die ins Spiel kommen als von der sprachlichen Durcharbeitung. Sehr schön finde ich das Element der Fotospur: Es sind zwar keine Fotos im Buch enthalten, aber es wird von Fotos erzählt und zwar schon auf der ersten Seite…

Das ist der Erinnerungsbogen von dem ich am Anfang gesprochen habe, genau.

Ja, das sind die Bilder von Robert Frank, es sind aber auch Fotos, ein Bild eines Freundes zum Beispiel, Erinnerungen auch an die Friedhofsinsel San Michele, Robert Frank war ein amerikanischer Fotograf, der berühmte Bilder gemacht hat, ich glaube fast jeder hat schon einmal eines gesehen von einem Zeugen Jehovas mit abstehenden Ohren, die etwas ganz Deprimierendes haben, oder ein Soldat mit einer deutliche älteren Frau im Arm, der die Straße hinuntergeht und das sind auch Spiegelungen ihres eigenen seelischen Zustands, diese Bilder, die illustrieren eigentlich etwas von ihr selbst.

Es ist die komplette Trostlosigkeit und diese Leblosigkeit und das Verbrechen ist ein Vitalitätsmoment, das spendet Leben und das ist etwas, wodurch sie dann plötzlich aufzuwachen scheint, also sie hat auch so eine Angstlust, so eine tiefe Freude daran, was gerade passiert, dass endlich überhaupt mal was passiert, dass diese Gleichmäßigkeit, in der sie gefangen zu sein scheint, diese bürgerlichen Konventionen, dieses Partygeplauder, dass das endlich einmal gesprengt wird. Da verspürt sie eine tiefe Befriedigung, und das ist eben das Verstörende an diesem Roman. In der Art und Weise, wie Yasmina Reza das Drama komponiert ist es aber letzten Endes sehr überzeugend.

Absolut, gebe ich Ihnen recht, trotzdem hat das Buch bei mir eine seltsame Leere hinterlassen, vielleicht ist das auch gewollt von der Autorin. Ich habe mich dann gefragt, ja, was wollte uns dieser Roman überhaupt sagen?

So grundsätzlich sind Sie dann gleich geworden? Ich glaube fast, dass man damit der Yasmina Reza unrecht tut, weil man das Buch zu sehr überfragt. Es ist eine Variante des Gesellschaftsromans, sehr unterhaltsam, und gleichzeitig kommt einem aber doch dann auch ein bisschen das kalte Grauen, wenn man hinter die Fassade guckt dieser französischen Konventionalität, und das ist es, glaube ich, was sie interessiert, also da auch ein bisschen analytischer mit umzugehen anders als in den Theaterstücken. Ich habe die Vermutung, dass sie das Genre des Gesellschaftsromans für sich ausprobieren möchte und eine sprachliche Variante finden will, die ihr entspricht.

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AUTOR/IN
Casten Otte
Maike Albath