SWR2 Buch der Woche vom 30.01.2017

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Sylvia Kall

Stand
AUTOR/IN
Clemens Hoffmann

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Sylvia Kall

„Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen und dafür ein ganzes Jahr brauchen", so lautet der Untertitel. Und genau darum geht es in „Das Buch vom Meer". Der Norweger Morten Strøksnes hat in die Rahmenhandlung zahllose literarische Anspielungen und spannende wissenschaftliche Erkenntnisse über das Leben am und im Meer eingewoben.

In Norwegen war das Buch ein Beststeller, wurde mit Preisen überhäuft und erschien mittlerweile in 17 Ländern. Im Februar kommt in Oslo sogar ein Theaterstück dazu heraus. Clemens Hoffmann hat Morten Strøksnes in Berlin getroffen.

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Der Traum: Den Eishai fangen

Alles beginnt mit einem lang gehegten Traum, einer fixe Idee: Hugo Aasjord hat diesen Traum, ein etwas menschenenscheuer und exzentrischer Künstler und ein alter Freund des Autors Morten Strøksnes. Auf der winzigen Insel Skrova hoch im Norden Norwegens malt Hugo und nebenbei baut er eine zerfallene Fischfabrik zu einem Kulturzentrum um.

Aber eigentlich will er noch etwas ganz anderes: "Hugo erzählte mir von seiner Obsession, diesen Eishai zu fangen.  Er hat Jahrzehnte darüber nachgedacht und jetzt kommt dieser Wunsch an die Oberfläche. Er will ihn fangen. Ob ich mitkommen will? Auf jeden Fall, sage ich, ohne eine Sekunde zu zögern.  Ich werde darüber schreiben!" (Morten Strøksnes)

Gesagt, getan: Ein ganzes Jahr lang versuchen der Ich-Erzähler und sein kauziger Maler-Freund Hugo im Vestfjord, einem launischen Stück Meer vor den Lofoten, den Eishai zu fangen.

Das Meer als geheimnisvoller Handlungsort

Im Schlauchboot und nur mit einer Angel bewaffnet rücken die Freunde aus. Der verwesende Kadaver eines schottischen Hochlandrindes wird als Köder für die Bestie zu Wasser gelassen. Ein anderes Mal ein halber Zentner Wal-Speck. Dann heißt es abwarten. Schweigend, geduldig. Schaukelnd auf den Wellen. Eins mit den Elementen. Eine fast meditative Stimmung.

"Das Meer ist geheimnisvoll! Vor allem wenn du in einem Boot sitzt, unter dir die Tiefe. Du fischst.  Dieses Gefühl, du siehst überhaupt nichts, und da unten ist so viel Leben! Wenn etwas anbeißt, können es sehr seltsame Gestalten sein – aufregend!" (Morten Strøksnes)

Doch das Buch vom Meer ist mehr als eine literarische Reportage über zwei mittelalte Männer beim Fischen. Ein Zitat aus dem Alten Testament ist diesem ganz und gar erstaunlichen Buch vorangestellt. Eine Frage Gottes an den frommen Hiob, die den Ton vorgibt für das, was auf den nächsten 350 Seiten folgen wird.

Nun ist Autor Morten Strøksnes kein sonderlich gläubiger Mensch. Aber er hat sich das Staunen über die Unergründlichkeit der Schöpfung bewahrt und er meint: "Ich stieß zufällig auf das Zitat und fand es sehr passend. Darum geht es doch: Können wir die Tiefe des Meeres erfahren? Es sind so viele Dinge da unten. Und die Antwort ist natürlich: Nein!"

Die Tiefsee ist ein Ort voller biologischer Geheimnisse

Denn - und davon handelt dieses Buch: Das Meer ist selbst für einen Norweger ein fremdes Universum. Obwohl mehr als zwei Drittel der Erde von Wasser bedeckt sind, wurde bisher nur ein sehr kleiner Teil der Meeresbewohner erforscht. Vor allem die Tiefsee birgt noch viele unergründete Geheimnisse. Überraschende Seitenlinien der Evolution. Ihre Biologie ist nicht die unsre. Ihre Sprache auch nicht, schreibt Strøksnes:

Strøksnes ist kein Meeresbiologe. Als Journalist schreibt der Norweger Sachbücher von herausragender literarischer Qualität – über den Kongo, über die Sierra Madre oder den Nahen Osten. Das Meer hat den 1965 im nordnorwegischen Kirkenes an der Barentssee geborenen Autor aber schon von kleinauf fasziniert. Schließlich ist er mit dem Ozean aufgewachsen. "Das gibt dir eine spezielle Verbindung zum Meer. Du verbringst so viel Zeit am Wasser! Oder darauf - im Boot. Als Junge spielst du am Strand.  Es gibt so viele Dinge, die du tun kannst. Da ist so viel Leben. Du kannst Tiere fangen. Du kannst die aufregendsten Fische angeln." (Morten Strøksnes)

In "Das Buch vom Meer" stecken drei Jahre akribische Arbeit

Drei Jahre hat Strøksnes an dem Buch gearbeitet, zur Hälfte übrigens in Berlin, wo er eine kleine Wohnung besitzt, in die sich der in Norwegen sehr bekannte Autor regelmäßig zum intensiven Schreiben zurückzieht. Für das „Buch vom Meer“ hat sich der 51jährige mit unbändiger Neugier und Akribie in die Recherche gestürzt. Und zuerst einmal: sehr viel gelesen. Morten Strøksnes: "Poesie, wissenschaftliche Artikel, Geschichtsbücher. Ich versuche, mich in diese Lektüre hinein zu versenken. Ich recherchiere immer viel zu viel , und dann muss ich auswählen und Vieles weglassen. Das ist ein sehr harter Prozess."

Die Kunst des Weglassens beherrscht Strøksnes. Aber noch glänzender beherrscht er die Kunst des farbigen Erzählens. In abenteuerlichen Assoziationsketten fabuliert sich Strøksnes durch sein Material. Mischt uralte Mythen mit brandaktuellen Problemen wie der Überfischung, der zunehmenden Meeresverschmutzung oder der Bedeutung der Weltmeere als Regulativ für unser Klima. Wobei die eine Geschichte, wenn ihr allmählich die Puste ausgeht, der nächsten auf den Rücken tippt und sie wie bei einem Staffellauf weiterschickt.

"Assoziativ zu schreiben, das ist ein Weg, das Manuskript zusammenzuhalten. Man kann es falsch machen, dann ist es zu offensichtlich für den Leser und wirkt künstlich. Ich versuche es natürlich so zu machen, dass es nicht gezwungen wirkt", sagt Morten Strøksnes

Die Rahmenhandlung macht das Buch spannend

Von den Geräuschen eines Wintersturms wird Strøksnes in einen schweißtreibenden Meeres-Alptraum geworfen. Später philosophiert er über die menschliche Furcht vor den Gewalten der Ozeane. Während der Sturm sich zu einem Orkan auswächst, liest er sich fest in einer frühen historischen Beschreibung sagenhafter Meeresgestalten, um von dort auf die real existierenden Meereswunder unserer Tage zu kommen.  

Morten Strøksnes spinnt dabei kein Seemannsgarn. Ein beindruckender Quellenkatalog im Anhang belegt noch die unwahrscheinlichsten Phänomene. Meeresbiologen hätten alle Fakten gecheckt, beteuert Strøksnes. Wobei sich „Das Buch vom Meer“ keine Sekunde wie ein dröger Wissenschaftsessay liest.

Das liegt vor allem an der originellen Rahmenhandlung, der Jagd nach dem Eishai über der die Jahreszeiten vergehen. Es stürmt und regnet. Oft ist das Nordmeer zu rau, um hinauszufahren. Dann wieder glattgezogen wie ein Spiegel. Manchmal ruckelt es an der Angelschnur, doch der Hai, das Urmonster, bleibt ein Phantom. Unserer schaudernden Vorfreude auf die finale Begegnung tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Lese-Spannung steigt eher noch, mit jedem weiteren erfolglosen Fang-Versuch.

Der Schluss sei hier nicht verraten. Nur so viel: fast ein bisschen unwillig legt man das Buch aus der Hand – ungläubig, dass das Abenteuer vorbei sein soll, aber auch tief beglückt. Es hätte noch ewig so weitergehen können.  

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Clemens Hoffmann