SWR2 Buch der Woche vom 16.01.2016

Essay zur Geschichtstheorie

Stand
AUTOR/IN
Michael Kuhlmann

Essay zur Geschichtstheorie

In Zeiten, in denen unzählige Bücher und Fernseh-Dokumentationen versuchen historische Ereignisse zu rekonstruieren, setzt dieser Großessay den fälligen Kontrapunkt. Geschichte ist für den Autor nichts Feststehendes, sondern eine Erzählung aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart. Entschieden geht er mit liebgewonnenen Gewohnheiten der herkömmlichen Historiographie ins Gericht.

Chronoferenz als Gegenmodell zu den Denkgewohnheiten der Historiker

Offenkundig sind es zwei Denkgewohnheiten der Historiker, gegen die sich Achim Landwehr mit seinem Essay zu Wort meldet. Viel zu sehr, so sagt er, stützten sich die Gelehrten noch auf ein noch von Hegel inspiriertes Geschichtsdenken: wonach es die eine große Geschichte gebe, der alle Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert seien. Und: Viele hielten die Zeit für eine objektive Dimension, die unverrückbar ablaufe. Achim Landwehr aber sieht ein Geflecht, das er „Chronoferenz“ nennt.

Die Betrachtung historischer Phänomene wandelt sich mit der Zeit

Wenn also beim Stichwort „Französische Revolution“ die einen an die Befreiung von der Monarchie denken, die anderen an den Terror der Jakobiner. Wie historische Phänomene betrachtet werden, das wandelt sich häufig auch mit der Zeit. Die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab man vor vierzig oder fünfzig Jahren allein Deutschland und Österreich; heute fällt der Blick auch auf Fehlverhalten der Alliierten.

Achim Landwehr sieht die Geschichtsschreibung im Detail im ständigen Wandel begriffen – sie verändere sich wie große Wolkengebirge am Himmel. Historiker konstruierten etwas. Landwehr nennt das „Zeitschaft“ – in Anlehnung an den Begriff der Landschaft.

Zeitschaft und Chronoferenz sind die zentralen Begriffe

Die Zeitschaft und die Chronoferenz sind die zentralen Begriffe in Landwehrs sechzenteiligem Essay. Es geht auf dieser Basis auch um den Umgang mit Quellen und Archiven, um die Möglichkeit, Historisches überhaupt zu beschreiben: denn das Vergangene ist nicht mehr da, es ist abwesend. Es geht auch darum, dass vieles eben auch ganz anders hätte kommen können – und dass man das als Historiker nicht vergessen sollte.

Geschichtsschreibung ist immer pluralistisch

Geschichtsschreibung kann also gar nicht anders sein als pluralistisch. Aber geben die Quellen nicht den Kurs vor? Landwehr denkt offenkundig nicht, dass aus solchen Quellen das unbestechlich klare Wasser der Objektivität sprudelt – er spricht lieber von Material. Dieses Material formt unsere Vorstellung des Vergangenen.

Jede neue Epoche zeichnet ihre eigenen Bilder

Landwehr denkt also über konventionelle Quellenkritik hinaus: Auch mit Bergen ergiebigsten Materials können Historiker nur ein schemenhaftes Bild des abwesenden Vergangenen zeichnen. Und dieses Bild wandelt sich ohne Unterlass: Jede neue Epoche zeichnet ihre neuen Bilder. Man sollte also die Grenzen historischer Erkenntnis im Auge behalten. Zugleich aber den Einfluss, den schon diese begrenzte Erkenntnis ausübt: je nachdem, ob man zum Beispiel den 8. Mai 1945 als Tag einer Niederlage oder einer Befreiung begreift.

Geschichtsschreibung ist mehr als die eigentliche Historiographie

Mit jedem neuen historischen Buch und jedem neuen historischen Feuilletonartikel. Und jeder neuen halbgebildeten Absonderung in den sozialen Netzwerken. Geschichte zu schreiben, ist also nicht nur Sache der eigentlichen Historiographie.

Zum Beispiel wenn es um die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 ging und die menschenverachtenden Schlüsse, die serbische Nationalisten aus ihr zogen. Die Geschichtsschreibung mit ihren Chronoferenzen und Zeitschaften ist nach Landwehr also ebenso variabel wie einflussreich. Die an sich abwesende Vergangenheit ist auf diesem Wege dann wieder doch anwesend.

Die Konsequenzen daraus muss man im Buch freilich ein wenig zwischen den Zeilen suchen. Für den Adressaten geschichtsbezogener Äußerungen bestätigt sich die alte Erkenntnis, dass er nicht alles kritiklos für bare Münze nehmen darf. Die Geschichtsschreibung selbst kann sich nicht mehr damit begnügen, die Ereignisse linear herunterzuerzählen.

Das historische Arbeiten bietet viele Kritikmöglichkeiten

Was aber tun, wenn diese Gegenwart sich ein windschiefes Bild der Vergangenheit zurechtzimmert? Muss man auch das tolerieren, unter Hinweis auf die Pluralität von Geschichtsdarstellungen? Keineswegs, sagt Landwehr.

Diesen Kurs verfolgt Landwehr auch durch sein Buch hindurch. In Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit geht er entschieden mit liebgewonnenen Gewohnheiten der Historiographie ins Gericht. Demnach haben wir etwa keinen Anlass, uns für schlauer zu halten als die Menschen der frühen Neuzeit oder des Mittelalters. Aber Achim Landwehr lässt durchblicken, dass dieser Essay noch nicht der Schlusspunkt seiner Erkenntnisse ist, sondern dass er seine Gedanken noch weiterführen wird. Und jeden, der Vergangenes erforscht, ermuntert er zur Gelassenheit.

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Michael Kuhlmann