SWR2 Buch der Woche vom 13.06.2016

Matthias Hirth: Lutra, lutra

Stand
AUTOR/IN
Dr. Eberhard Falcke

Matthias Hirth hat mit "Lutra, lutra" nicht nur einen erotischen Bildungs- und Selbstfindungsroman geschrieben, sondern zugleich einen Gesellschaftsroman über das Nachtleben und die erotischen Dunkelräume unserer Zeit, wie er lange nicht mehr zu lesen war. Eindringlich und überzeugend.

ll

Moralische Maßstäbe im zeitlichen Kontext

In den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts malte und zeichnete der Engländer William Hogarth seinen berühmten Zyklus über den moralischen Niedergang und menschlichen Absturz eines reichen Bürgersohnes. "A Rake's Progress", "Die Karriere eines Wüstlings" betitelte er sein Bildwerk, in dem sich die mahnende Botschaft auf possierlichste Weise mit der brachialen Unterhaltsamkeit der geschilderten Fehltritte verbindet. So justiert jede Zeit ihre moralischen Maßstäbe, indem sie sich mit den gerade aktuellen Formen der Normverletzungen und Grenzüberschreitungen auseinandersetzt.

Gleich zwei Romane über "Wüstlingskarrieren"?

In dieser Buchsaison gibt es gleich zwei umfangreiche Romane, die sich trotz aller unumgänglichen zeitgemäßen Relativierung doch ebenfalls als Geschichten von Wüstlingskarrieren bezeichnen ließen. Im einen Fall handelt es sich um den Roman "Der Jonas-Komplex" aus der Feder des Wiener Schriftstellers Thomas Glavinic, obwohl darin die für heutige Wüstlinge typischen Sex-Drugs-und-Trallala-Tollereien des Helden von der dominierenden Dramaturgie einer Besserungsgeschichte gehörig in den Hintergrund gedrängt werden.
Ganz anders liegen die Dinge in "Lutra lutra", dem zweiten Roman des Münchner Autors Matthias Hirth. Da beschließt der Held mit Namen Fleckenstein, kurz Fleck genannt, gleich von Anfang an, sich auf die große Ausraster-Sause zu begeben und daran wird er auch über die gut 700 Seiten des Romans unbeirrt festhalten.

Die doppelte Bedeutung des Titels

Schon auf Seite 16 hat ihn das Nachtleben verschluckt, seine Hand arbeitet sich zielstrebig durch die Unterwäsche einer angetörnten jungen Frau und deren künftiger Gatte - Heiratstermin ist schon bestellt - macht neo-libertär die Triole komplett.
Bald darauf erweitert Fleck seine sexuelle Zuständigkeit entschlossen auf das eigene Geschlecht. In Schwulenkneipen wird ihm von allen Seiten signalisiert, dass er auch als Männertraum eine ausgezeichnete Figur macht. Er greift die neuen Kontaktmöglichkeiten auf, zunächst mit leichtem Widerwillen, schnell jedoch bewegt er sich in den erotischen Netzwerken, die sich ihm da eröffnen, wie ein Fischotter im Wasser. Das ist gewiss auch ein Grund dafür, dass der Roman als Titel den lateinischen Namen dieses Tieres trägt: Lutra lutra. Der andere Grund, den der Autor dafür erfunden hat, ist der Umstand, dass das Jahr 1999, in dem der Roman spielt, das Jahr des Fischotters war. Und dieser taugt zweifellos hervorragend als Wappentier für den Helden Fleck, der sich in erotischer Hinsicht ebenso gewandt wie gewissenlos und gefräßig zeigt.

Ein Buch voller Widersprüchlichkeiten?

Matthias Hirths Roman "Lutra lutra" ist zugleich ein erotischer Bildungs- und Selbstfindungsroman und er ist es auch wieder nicht. Genauso wie man seinen Helden, diesen Fleck, als einen Wüstling unserer Tage ansehen kann - und auch wieder nicht. Woher diese Widersprüchlichkeit? Tatsächlich durchläuft Fleck eine ganze Folge nächtlicher, grenzüberschreitender Bildungserlebnisse und doch geschieht das offensichtlich nicht, um ihn zu einem entwickelten Menschen zu bilden. Und zweifellos sucht er in Exzess und luststeigernder Eskalation eine verschärfte Wahrnehmung seiner selbst, dennoch aber gibt es keine Anzeichen dafür, dass er das tut, um sich zu emanzipieren oder dem eigenen Wesen näher zu kommen.
Das könnte man nun als einen Fehler des Romans betrachten, als ein Versagen des Autors bei der erzählerischen Sinnschöpfung. Viel plausibler aber lässt sich das als Befund deuten. Dann wird der Roman nämlich lesbar als ein großer erfahrungsreicher Versuch über die Frage, welche Bedeutung erotisches Abenteurertum und sexuelle Grenzüberschreitungen heute noch haben können.

Vor sechszig Jahren ein existenzielles Wagnis

Zu Zeiten von William Hogarth und bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein hätte Matthias Hirths Romanheld mit seinen nächtlichen Eskapaden und seinem anti-bürgerlichen Lebensstil zweifellos zum Wüstling getaugt. Im Jahr 1999, am Vorabend unserer heutigen Gegenwart also, kann er diese Rolle eines gesellschaftlichen Skandalons jedoch längst nicht mehr spielen. In unseren Zeiten, da der direkte Weg vom Coming out zum Standesamt auf emanzipatorisch erfreuliche Weise gebahnt ist, hat das symbolische Kapital der schwarzen Sündenromantik natürlich entscheidend an Kurswert verloren.
Das große existentielle Wagnis, das noch bei einem Georges Bataille vor sechzig Jahren mit sexuellen Eskapaden verbunden war, erscheint für den Helden von Matthias Hirth aufs äußerst Übersichtliche geschrumpft. Dennoch ist die anarchische Kraft der sexuellen Exzesse nicht völlig verschwunden. Sie hat sich nur aus dem Feld der großen sozialen Kontroversen zurückgezogen in die engeren Bezirke des Mit- und Gegeneinanders der Einzelnen, die vermittels ihrer erotischen Aktivitäten nach wie vor über ihr Glück oder Unglück entscheiden. Davon erzählt Matthias Hirth in seinem Roman.

Der Held im Rahmen zeittypischer Dimensionen

Das macht er eindringlich und überzeugend, weil er seinen Helden weder heroisiert noch durch historische Anleihen überhöht. Stattdessen wahrt er realistische, für unsere Tage zeittypische Dimensionen. Wenn Fleck sich aus dem Berufsalltag einer Werbeagentur ins wilde Nachtleben verabschiedet, dann ist das so als würde er eine Auszeit oder ein Sabbatical nehmen. Ein paar von der Großmutter geerbte Tausender machen es möglich.

Aufschlussreiche Erzählungen über aktuelle Ausschweifungen

Trotzdem finden sich auch auf seinem Weg schroffe, abgründige Risiken. Als er sich nach einer großen Missetat für Momente dem Bösen nahe fühlt und dostojewskischen Empfindungen nachspürt, nimmt man ihm das ohne weiteres ab. Für die Erschütterungen seines Helden bis ins Innerste hat Matthias Hirth den richtigen treibenden, fesselnden Ton gefunden. Vor allem ist es zeitgemäß absolut schlüssig, dass Fleck am Ende, anders als der Hogarth’sche Wüstling, nicht etwa im Irrenhaus landet sondern in einem OP-Saal, wo er sich durch Entfernung der Mandeln für den nächsten Lebensabschnitt fit machen lässt. Die große Orgie ist gelaufen, jetzt mag was anderes kommen.
Ein solcher Gesellschaftsroman über das Nachtleben und die erotischen Dunkelräume unserer Zeit war lange nicht zu lesen. Was er über aktuelle Ausschweifungen und ihre Ökonomie verrät, das macht ihn zu einer höchst aufschlussreichen erzählerischen Expedition.

Stand
AUTOR/IN
Dr. Eberhard Falcke