SWR2 Buch der Woche am 29.02.2016

Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Stand
AUTOR/IN
Tobias Lehmkuhl

Roland Schimmelpfennig folgt den Spuren eines Wolfes und kreuzt sie mit den Wegen sehr unterschiedlicher Menschen. Der gefeierte Theaterautor hat mit "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" einen Roman vorgelegt, der nicht darauf angelegt ist, mit erzählerischen Konventionen zu brechen. "Konventionell" aber mag man ihn gleichwohl nicht nennen. Souverän wäre das treffendere Attribut. Hier weiß einer, was er erzählen will, und er weiß um seine Mittel. Schimmelpfennigs Sprache ist, wie in seinen Theaterstücken, so einfach wie poetisch.

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Der vielversprechende Titel

Er sei der meistgespielte Dramatiker Deutschlands, heißt es über Roland Schimmelpfennig, und auch an Auszeichnungen mangelt es ihm nicht. Den Nestroy-Preis hat er erhalten, den Else-Lasker-Schüler-Preis und auch den Mühlheimer Theaterpreis. Trotzdem war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass er gleich mit seinem ersten Roman auch zu den fünf Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse gehören würde.

"An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" – das klingt so gut, dass man es gleich wiederholen möchte, ernsthaft, vielversprechend. Und so beginnt denn auch Roland Schimmelpfennigs Debütroman mit ebendiesem Satz:

Ein zeitgemäßer Roman?

Fast märchenhaft mutet das an, und tatsächlich wird hier eine mythische Landschaft aufgerufen: Der weite, vereiste, beinahe menschenleere Osten. Hinter Berlin beginnt ja bekanntlich Sibirien.

Wie aus der Zeit gefallen scheint diese Szenerie: Hat man es hier wirklich mit einem Roman des Jahres 2016 zu tun? Wurde der Osten, wurden Berlin und sein brandenburgisches Hinterland nicht in den neunziger und noch Anfang der zweitausender Jahre ein ums andere Mal beschworen? Und ist es jetzt nicht angezeigt, über den Nahen Osten, über Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, über Flüchtlinge im Mittelmeer oder wenigstens, das hat sich doch bewährt, über Familiengeschichten aus der Nazizeit zu schreiben? Interessiert Roland Schimmelpfennig alles nicht.

Wolfsspuren als Verbindung

Märchen, oder auch eine alte Legende: Schimmelpfennigs Sprache ist, wie in seinen Theaterstücken, so einfach wie poetisch. Und natürlich interessieren ihn nicht nur Tiere. Der Wolf bewegt sich in seinem Roman, wie es sich für einen Wolf gehört, im Hintergrund, nur hin und wieder tritt er, einer Epiphanie gleich, ins Gesichtsfeld der Menschen: Ein polnischer Bauarbeiter, der auf der Autobahn Richtung Berlin eingeschneit im Stau steht, fotografiert ihn. Ein Spätkaufbesitzer sieht das Foto in einer Zeitung und macht sich selbst auf die Suche nach dem Tier. Zwei Brandenburger Jugendliche, die von zu Hause ausreißen und im Wald einen toten Jäger finden, kreuzen später den Weg des Wolfes, als sie in einem Rohbau im Prenzlauer Berg Unterschlupf finden. "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" ist ein Geschichtenmosaik, in dem Wolfsspuren von einer Geschichte zur anderen führen. Wo ein Wolf ist, ist freilich ein Gewehr nicht weit.

Und wenn in einer Geschichte ein Gewehr auftaucht, kann man sicher sein, dass es irgendwann abgefeuert wird. Roland Schimmelpfennig hält sich an diese Regel, überhaupt ist sein Roman nicht darauf angelegt, mit Konventionen zu brechen. "Konventionell" aber mag man ihn gleichwohl nicht nennen. Souverän wäre das treffendere Attribut. Hier weiß einer, was er erzählen will, und er weiß um seine Mittel.

Eine plausible Geschichte aus Geschichten

Fasziniert ist er dabei weniger von der Weite des Ostens als von den Schnittstellen der Stadt: Orte, die seine Protagonisten passieren, um sich dort zu begegnen oder auch zu verpassen: Der Vater, der die ausgerissenen Jugendlichen sucht, und selber auf der Flucht ist - vor dem Alkohol. Der polnische Bauarbeiter, der seine Freundin verlässt, weil sie von einem anderen ein Kind erwartet. Die Frau, die die Tagebücher ihrer Mutter verbrennt, weil sie selbst darin nicht vorkommt. Vieles kreist hier um den erwähnten entkernten "prenzlberger" Altbau, um eine Leere, freie Räume also. Entsprechend vermeidet es Schimmelpfennig, sein erzählerisches Netz zu eng zu ziehen. Manche Spur verliert sich, andere Linien hingegen überlagern sich mehrfach. So wirkt seine Geschichte aus Geschichten stets plausibel, realistisch.

Das leiseste, unspektakulärste Buch unter den Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse

Fraglos ein gutes, ein solides Buch, das einfache Dinge in kraftvolle Sprache fasst. Wer allerdings nach Ungehobeltem oder nach der großen Überraschung sucht, wird hier sicher nicht fündig. Unter den Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse ist "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts", das leiseste, unspektakulärste Buch. Neben der kompromisslosen Mördergeschichte Heinz Strunks, dem monumentalen, tausendseitigen Geschichtspanorama Guntram Vespers, der fast ebenso langen postapokalyptischen Vision Nis-Momme Stockmanns sowie den Gedichten Marion Poschmanns, nimmt es sich gleichwohl geradezu erfrischend normal aus.

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AUTOR/IN
Tobias Lehmkuhl