Aus der Bestenliste diskutieren die Literaturkritiker*innen Nicola Steiner, Gregor Dotzauer und Jan Wiele mit Carsten Otte über Bücher von Sebastian Köthe, Peter Stamm, Birgit Birnbacher und Friedrich Christian Delius.
Zum Auftakt der Diskussion der vier Titel aus der März-Bestenliste im gut besuchten Freiburger Literaturhaus gab es gleich deutliche Kritik an dem fünftplatzierten Band: Nicola Steiner fragte sich gar, warum die „Gedichte aus Guantánamo“, die oft propagandistisch seien, überhaupt auf der SWR Bestenliste stünden. Jan Wiele bemängelte vor allem das Nachwort des Herausgebers Sebastian Köthe, das in seiner politisch-moralischen Ausrichtung eine literaturkritische Auseinandersetzung mit der Lyrik unmöglich mache. Gregor Dotzauer hingeben gab zu, dass die Gedichte ihn berührt hätten, selbst wenn die Entstehungsgeschichten der einzelnen Werke nicht eindeutig bestimmbar seien. Eine kulturhistorische Einordnung dieser Gefängnislyrik im Nachwort aber vermisste auch Dotzauer.
Auf unterschiedliche Weise, aber einhellig gelobt wurden die beiden zweitplatzierten Romane. Peter Stamms literarisches Spiel mit Versatzstücken einer Schriftstellerbiografie überzeugte die Runde nicht zuletzt, weil das Buch nicht nur als Metafiktion, sondern eben auch als Paris-Roman, Mediensatire und vertrackte Liebesgeschichte gelesen werden kann.
Beeindruckt zeigte sich die Jury auch von Birgit Birnbachers „Wovon wir leben“, einem sprachlich virtuosen Roman, der den Auswirkungen sowohl sinnstiftender als auch entfremdeter Arbeit nachspürt und der zudem einem Grundthema der österreichischen Literatur, nämlich dem Stadt-Land-Gefälle, neue Facetten abgewinnt.
Auf der Spitzenposition der SWR Bestenliste im März steht ein Abschiedsbuch: Friedrich Christian Delius versucht in seinen „Erinnerungen mit großem A“, das eigene Schriftstellerleben in literarischen Miniaturen Revue passieren zu lassen, bewusst ohne dem Anspruch, vollständig zu sein. Denn der sei laut Delius „grauenhaft unliterarisch“. Dotzauer und Wiele meinten die Stimme des Büchner-Preisträgers in den Texten zu hören. Die beiden Kritiker waren nahezu gerührt von der Demut und dem Erstaunen des Autors gegenüber dem eigenen Erfolg, der gewiss hart erarbeitet war. Dass der unlängst verstorbene Autor auch in seinem letzten Buch sprachlich überzeuge, den Wert des Fragments feiere, hob Steiner hervor. Außerdem wurde Delius als politischer Kopf gewürdigt, der die Generation der 68er deutlich heterogener beschreibt, als es Berichte vermuten lassen, die sich auf die Stars der Bewegung konzentrieren.
Aus den diskutierten Büchern lasen Antje Keil und Dominik Eisele.
Über diese Bücher wurde diskutiert
Platz 6 (43 Punkte) Birgit Birnbacher: Wovon wir leben
Birgit Birnbacher hat einen sensiblen und präzisen Blick für Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Julia, die Protagonistin, verliert ihren Job und kehrt in den Ort ihrer Kindheit zurück. Gibt es dort eine Zukunft?
Platz 1 (101 Punkte) Friedrich Christian Delius: Darling, it's Dilius
Im Februar wäre F.C. Delius 80 Jahre alt geworden. Bis zuletzt hat er an seiner Autobiografie geschrieben: Kurze Texte, sortiert nach Stichworten, die allesamt mit dem Buchstaben A beginnen. Mal melancholisch, mal präzise scharf gestellt.
Literatur SWR Bestenliste Dezember
Die SWR Bestenliste empfiehlt seit über 40 Jahren verlässlich monatlich zehn lesenswerte Bücher, unabhängig von Bestsellerlisten. Nicht die Bücher, die am häufigsten verkauft werden, bestimmen die Liste, sondern eine Jury, bestehend aus 30 namhaften LiteraturkritikerInnen, wählt die Bücher aus, denen sie möglichst viele LeserInnen wünscht.